Gerechtigkeit für Grusinien

Thomas Langhoff treibt dem "Kaukasischen Kreidekreis" den Brecht aus

Die Idee war gar nicht schlecht: Brecht on Broadway, und zwar schon 1944, und nicht mit der "Dreigroschenoper", sondern gleich mit "Der kaukasische Kreidekreis". Den schrieb Bertolt Brecht zu dieser Zeit im amerikanischen Exil mit der letzten Hoffnung, so im Kommerztheater-Mekka reüssieren zu könnnen. Natürlich hatte das Stück in den Augen potentieller Produzenten zu wenig Trallala, zu wenig Action, zu viel Politik. Es wurde erst fünf Jahre später uraufgeführt, und auch nicht am Broadway, sondern in der tiefen Provinz, am Carleton College in Northfield / Minnesota (Regie: Eric Bentley). 1954 inszenierte Brecht den "Kreidekreis" am Berliner Ensemble, mit Ernst Busch, Helene Weigel und Angelika Hurwicz, die später sagte: "Das Wort Verfremdung fiel während der achtmonatigen Proben nur ein einziges Mal."

Inzwischen zählt "Der kaukasische Kreidekreis" zu Brechts am häufigsten aufgeführten Stücken. Er gilt als volkstümlich, hat Paraderollen für mehrere Schauspieler und einen unverwüstlichen Stoff. Trotzdem ist der "Kreidekreis" weder in Bezug auf Inhalt noch Form populistisch. Er führt die klassische Dramatik an ihre Grenzen, indem er den Dialog auflöst und zum inneren Monolog umfunktioniert. Dann singt der Zeremonienmeister, der Sänger Arkadi, was die Personen denken und nicht sagen. Die Schauspieler selbst haben ebenfalls einiges zu singen. Die Kompositionen von Paul Dessau sind mehr als begleitende Bühnenmusik, sie fungieren als elementarer Bestandteil des Werkes. Dieses zerfällt, gestützt von einer Rahmenhandlung, in zwei Teile, die gleichzeitig stattfinden und natürlich hintereinander gespielt werden. Der Held des zweiten Teils, der Richter Azdak, ist meistens mit einem berühmten Darsteller besetzt, aber man muß lange auf ihn warten. Die Küchenmagd Grusche, Heldin des ersten Teils, bleibt seltsamerweise eher im Hintergrund. Wie immer bei Brecht klingen manche Zeilen komisch: "Hast du einen Vater für es?", andere sind geflügelt: "Schrecklich ist die Verführung zur Güte." "Der kaukasische Kreidekreis" ist wahrscheinlich Brechts raffiniertestes Stück: Es kaschiert seine ästhetische Brisanz mit einem harmlosen, narrativen Kostüm. In der Aufführungstradition jedoch ist der Preis für seinen Erfolg zumeist die avantgardistische Form.

Eine weitere Folge dieser unendlichen Geschichte von bequemer Simplifizierung zugunsten inhaltlicher wie formaler Konfliktvermeidung ist seit Sonntag am Deutschen Theater zu besichtigen, wo Thomas Langhoff den "Kaukasischen Kreidekreis" inszeniert hat. Wahrscheinlich ist es Pflicht, daß der Intendant in diesem Jahr, in welchem landauf, landab Brechts 100.Geburtstag gefeiert wird, eines von dessen großen Stücken selbst in die Hand nimmt. Ganz wohl scheint ihm dabei nicht gewesen zu sein, weshalb Langhoff, sehr ungewöhnlich, dem Publikum im Programmheft erklärt, warum er das Stück eigentlich inszeniert - als wüßte er bereits, daß die Aufführung dies nicht tun würde. "Kunst, die keinen Nutzen bringt, ist keine Kunst", hat Brecht gesagt. Sie soll Nutzen bringen in dem großen Bemühen, die Welt endlich bewohnbar zu machen. Ein frommer Wunsch, den ich glaube und nicht glaube, wie jede Äußerung, die so fromm ist wie dieses schöne Stück." (Langhoff) Mißverständnisse können durchaus produktiv sein. Bei Langhoff sind sie einfach langweilig. Die von Brecht im "Kreidekreis" gewählte Form zerstört die Dramatik. Langhoff klaubt die Scherben zusammen und tut, als wäre damit alles wieder gut. Das heißt den Brecht aus dem "Kreidekreis" vertreiben. Denn weder ist im Stück irgend etwas heile, noch vermögen Langhoffs Kleister-Versuche, die Welt wieder in die Angeln zu kleben. "Schwester, verhülle dein Haupt, Bruder, hole dein Messer, / die Zeit ist ganz aus den Fugen", singt der Richter.

Im Vorspiel erheben zwei Kolchosen Anspruch auf dasselbe Tal, das sie unterschiedlich bewirtschaften wollen. Sie leben im Kaukasus, in Grusinien, das Brecht 1944, entsprechend der aktuellen Lage, Georgien nannte, später dann, um aus der politischen Kritik zu geraten, wieder Grusinien. Eine Aufführung soll den Tal-Konflikt klären. Die beruht auf dem legendären Urteil des Königs Salomon: Da streiten zwei Mütter um dasselbe Kind. Salomon befiehlt ihnen, es aus einem Kreidekreis zerren. Die richtige Mutter läßt los, weil sie dem Kind nicht wehtun kann, und erhält es zugesprochen. Brecht korrigiert dieses Urteil: Die "falsche" Mutter, diejenige, die das Kind adoptiert und aufgezogen hat, läßt los. Es ist die Küchenmagd Grusche, die statt der reichen Gouverneursfrau nun das Kind behält. Der Richter Azdak macht aus der Stimme des Blutes die Stimme der Vernunft: "Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen (Ö) Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt." Im "Kreidekreis" werden alltägliche Verhaltensweisen und staatliche Begrifflichkeit hinterfragt und neu definiert: Mütterlichkeit, Familie, Eigentum, Recht, Gesetz, Moral. Die Traktoristin im Vorspiel: "Wie der Dichter Majakowski gesagt hat, 'die Heimat des Sowjetvolkes soll auch die Heimat der Vernunft sein'!"

Die Bühne des Deutschen Theaters hat Pieter Hein zu einem maroden Kulturhaus mit realsozialistischem Ambiente umgebaut. Die Styropordecke ist abgebröckelt, der rote Stern fast herabgefallen, im Hintergrund lächelt Stalin, der gebürtige Georgier, von der Wand, verblaßt wie ein romanisches Fresko. Pittoreske Post-Histoire, alles gepflegt morbide, während die Bauern im üblichen Flüchtlings-Outfit hereinstolpern, schließlich war hier gerade noch Krieg. Kitschige Folklore bestimmt den Gestus dieser Inszenierung, und Langhoff gibt ausführliche Herumsteh-Pausen, Rede-Zäsuren, geruhsames Atemholen dazu. Die Darsteller wirken, als vergäßen sie dazwischen, worum es eigentlich geht. Zwar wurde viel gekürzt, doch dauert die Aufführung immer noch gut drei Stunden.

Auch formloses Kunsthandwerk will Weile haben. Dessaus Original-Musik ist gestrichen, ersetzt durch synthetisches Ausverkauf-Geschmalze mit atmosphärischem Pastellcharakter. Die Lieder werden wie Muttertagsgedichte aufgesagt oder im gemischten Chor geröhrt. So bricht die Struktur des Stückes endgültig zusammen und das Ensemble der renommierten Bühne desgleichen. Es steht unter Schock und spielt auch so: Blutleer, apathisch, entrückt. Oder hilflos sturzbetroffen wie Petra Hartung als Grusche, die Brecht "störrisch statt aufsässig, willig statt gut, ausdauernd statt unbestechlich" nannte. Als Azdak wurde Klaus Löwitsch, der TV-Peter Strohm, engagiert. Er nuschelt und krakeelt, turnt über den Richterstuhl, verläßt ihn kopfüber, und findet trotzdem keinen Kontakt zur Rolle. Nachdenklich blickt er immer öfter zu Boden. Aber dort steht auch keine Antwort auf die Frage, was er hier eigentlich tut. So viel Ratlosigkeit überträgt sich irgendwann auf's Publikum. Azdak: "Das Recht ist weg wie nix, wenn nicht aufpaßt wird." Und nicht nur das.

Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis. Regie: Thomas Langhoff. Bühne: Pieter Hein. Mit Petra Hartung, Klaus Löwitsch, Dagmar Manzel, Christine Schorn, Käthe Reichel u.v.a. Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Berlin-Mitte. Vorstellungen: 8., 12., 13. und 23. April