Le Temps des Collabos

In Frankreich zerfällt die bürgerliche Rechte unter dem Druck des Front National

Eine Woche nach der Wahl mehrerer Präsidenten französischer Regionen mit Unterstützung des neofaschistischen Front National (FN) ist der innenpolitische Druck auf die Befürworter von Allianzen mit den Rechtsextremen spürbar angestiegen.

Am Montag, den 23. März verhinderten die Pariser Parteispitzen von Liberal-Konservativen (UDF) und Neogaullisten (RPR) eine Wiederholung dessen, was sich am Freitag zuvor in fünf Regionen abgespielt hatten, wo fünf von sechs mit den Stimmen des FN gewählten Regionalpräsidenten das vor diesem Hintergrund errungene Amt akzeptiert hatten. In der Ile-de-France (diese Region umfaßt den Großraum Paris) waren nach Informationen der Pariser Tageszeitung Libération 70 von insgesamt 83 bürgerlichen Abgeordneten bereit gewesen, eine Regionalregierung mit den Stimmen des FN einzusetzen, um das enorme Budget der Ile-de- France - aus dem sich regelmäßig große Summen an befreundete Firmen oder Investoren abzweigen lassen - unter dem Zugriff der Konservativen zu halten.

Die Führer der bürgerlichen Parteien sowie das Präsidentenamt des Staatsoberhaupts Jacques Chirac - selbst RPR -, warfen ihr gesamtes Gewicht in die Waagschale, um entsprechende Tendenzen zu unterbinden, sie setzten die Regionalabgeordneten ihres Lagers, so Le Monde und Le Figaro in fast identischer Formulierung, "unter Intensivüberwachung". 21 von 83 konservativen Vertretern rebellierten jedoch auch dann noch und verweigerten der "von oben" eingesetzten RPR-Kandidatin Dominique Versini die Gefolgschaft. 16 von ihnen schrieben bei der Bestimmung des Regionalpräsidenten den Namen des RPR-Mannes Didier Julia - der nicht zur Wahl stand, aber besonders lautstark für eine Allianz mit dem FN eingetreten war - auf ihren Stimmzettel, ein weiterer stimmte gleich für den FN-Kandidaten Jean-Yves Le Gallou. Eine offene Rebellion gegen Chirac, der zwei Tage später im Fernsehen jegliche Bündnisse mit der "rassistischen und fremdenfeindlichen Partei" verurteilte.

Zwei der fünf "Verräter" (Libération), "Kollaborateure" (L'Evénement du Jeudi) haben mittlerweile ihren Rücktritt eingereicht, so Jean-Pierre Soisson in der Bourgogne, der neben politischem allem Anschein nach auch persönlichem Druck innerhalb seiner Familie ausgesetzt war. Die verbliebenen drei Protagonisten einer (informellen) Allianz mit dem Front National jedoch gingen in die Offensive. Ex-Verteidigungsminister Charles Millon ließ sich in Lyon von 1 500 Anhängern aus dem bürgerlichen Lager feiern und orakelte von etwas "Größerem", in das die Bewegung münden werde. Berufen konnte er sich etwa auf Christine Boutin, UDF-Abgeordnete und seit Jahrzehnten Galionsfigur der parlamentarischen Anti-Abtreibungs-Lobby (mit besten Verbindungen etwa zum Opus Dei).

Auf der UDF-Führungstagung am 24. und 25. März stellte sich ein Konsens über die "Grundsatzfrage" (so der UDF-Vorsitzende Fran ç ois Léotard), ob zeit-weilige Bündnisse mit den Neofaschisten in Frage kommen oder nicht, als unmöglich heraus. Der Chef der christdemokratischen Partei Force Démocrate der UDF-Koalition, Fran ç ois Bayrou, kündigte im Anschluß an, "eine neue politische Partei der Mitte, der rechten Mitte" zu gründen - worauf Alain Madelin sich postwendend "überrascht" zeigte. "Die UDF steht am Rande des Auseinanderbrechens", stellte etwa Radio France Info fest, und Le Monde bestätigte: "Vier Tage haben genügt, damit die UDF auseinanderfällt."

Das hatte FN-Chefideologe Bruno Mégret schon am 11. Juni 1997 - zehn Tage nach der letzten Parlamentswahl - in einem Interview prophezeit: "RPR und UDF entsprechen überhaupt keiner politischen Realität. (Ö) Die wirkliche Erneuerung der bürgerlichen Parteien würde darin bestehen, die politischen Organisationen der Ex-Mehrheit auf Grundlage kohärenter und klarer politischer Ideengebäude neu aufzubauen." Und weiter: "Es ist sicher, daß es in diesem Fall auf der bürgerlichen Rechten eine Organisation gäbe, die keinen Grund hätte, nicht mit uns zusammenzuarbeiten und mit uns Abkommen, einschließlich Regierungskoalitionen, zu schließen."

Die aktuelle Situation, die tatsächlich auf eine Spaltung der bürgerlichen Rechten - zumindest der Nicht-Gaullisten - hinauszulaufen scheint, wäre in diesem Falle ein Erfolg der seit Jahren verfolgten Strategie des Front National, die auf eine "Explosion" des Mitte-Rechts-Spektrums abzielt. Nach den vorletzten Regionalwahlen im März 1992 begann der FN mit einem harten Konfrontationskurs gegenüber den bürgerlichen Parteien, die auch zu taktischen Bündnissen nicht bereit waren, und stimmte hier und da mit den Sozialisten. Zwei sozialdemokratische bzw. sozial-liberale Regionalpräsidenten wurden damals mit den Stimmen des FN gewählt - darunter Jean-Pierre Soisson, ironischerweise derselbe, der sich nunmehr erneut als jetzt liberal-konservativer Regionalpräsident mit FN-Unterstützung wählen ließ. In der Folgezeit baute der Front National die Praxis dieser gezielten Störmanöver gegenüber dem bürgerlichen Block aus - im Frühjahr 1996 ging er bei zwei Teilwahlen (für freigewordene Parlamentssitze) in der Normandie und im südfranzösischen Sète so weit, daß er bei der Stichwahl zur Wahl der kommunistischen Kandidaten aufrief.

Diese Taktik gegenüber bürgerlichen Politikern, die dem FN die kalte Schulter gezeigt hatten, wurde zwar rasch aufgegeben, da ein Großteil der FN-Wähler diesen Winkelzügen nicht folgen konnte oder wollte. Doch mit der Parlamentswahl 1997 waren die Neofaschisten am Ziel: In 133 (von 577) Wahlkreisen - überall dort, wo es ihm wegen seiner Stimmenzahl im ersten Wahlgang möglich war - hielt der FN seine (meist völlig aussichtslosen) Kandidaturen im zweiten Durchgang, also in der Stichwahl, aufrecht. Zwischen 30 und 40 Wahlkreise, so schätzten verschiedene französische Medien kurz nach der Parlamentswahl, gingen so in Dreiecks-Stichwahlen (Linke-Bürgerliche-FN) für die konservative Rechte verloren. Damit spielte der Druck des Front National eine Schlüsselrolle für die Wahlniederlage der Konservativen.

Kurz vor den Regionalwahlen des März 1998 änderte der FN schlagartig sein Verhalten gegenüber dem bürgerlichen Block - und bot seine Stimmen in den Regionalparlamenten nahezu umsonst und fast ohne Gegenleistung an. In mancher Region konnten die Bürgerlichen sich gar vor den Stimmen-Geschenken des FN gar nicht mehr retten: So stellte die Parteienallianz RPR-UDF schließlich in der Region Provence- Alpes-C(tm)te d'Azur PACA (der Hochburg des FN) zwei Kandidaten für die Regionalpräsidentschaft auf. Dieses Manöver sollte durch Aufspaltung der bürgerlichen Stimmen verhindern, daß die FN-Vertreter im Regionalparlament für einen bürgerlichen Kandidaten statt für den ihrer eigenen Partei stimmten. Im Falle eines Verzichts auf einen Kandidaten aus ihren Reihen hätten die RPR-UDF- Parteispitzen wiederum befürchten müssen, daß ein Teil ihrer Abgeordneten für den FN- Kandidaten anstatt, wie gewünscht, für den Sozialdemokraten Michel Vanzelle stimmen.

Das intelligente Kalkül des FN-Chefideologen (und ehemaligen RPR-Führungsmitglieds) Bruno Mégret hatte gelautet: Wir schenken den Bürgerlichen unsere Stimmen, lassen sie das Paket öffnen und warten in aller Ruhe ab, bis es in ihren Händen explodiert.

Der alternde FN-Vorsitzende Jean-Marie Le Pen, dem die Kontrolle über seine Partei zunehmend zugunsten des 21 Jahre jüngeren Strategen Bruno Mégret aus den Händen rutscht, legte jedoch am Wochenende des 21./22. März nach und forderte für sich die Präsidentschaft der Region PACA, als "Gegenleistung" für die vorausgegangene Beihilfe bei der Wahl von fünf UDF-Regionalpräsidenten. Damit fiel er den Strategen seiner Partei in den Rücken, vor allem nachdem er nach seiner absehbaren Abstimmungsniederlage im Regionalparlament PACA laustark den Rücktritt von Charles Millon in Lyon forderte, der zuvor die Stimmen des FN eingesackt hatte.

Was sagt eigentlich die Wählerschaft zu alledem? Ihre Mehrheit lehnt aktuell - mit 64 gegen 24 Prozent - prinzipiell eine Koalition von RPR und UDF mit dem Front National ab. Allerdings: 45 Prozent - gegenüber 46 Prozent Anhängern der Gegenmeinung - glauben, so eine Umfrage für Libération vom 23. März, daß es eines Tages FN-Minister in einer konservativen Regierung geben werde. Man scheint begonnen zu haben, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Proteste reißen zwar seit der Wahl der fünf "Kollaborateure" nicht ab, zuletzt demonstrierten am 28. März rund 40 000 Menschen in Paris und weitere Tausende in anderen Städten.

Nach der Zerstörung des jüdischen Friedhofs in Carpentras durch Neonazis, mit der im Mai 1990 die neofaschistische Gefahr in den Mittelpunkt der französischen Innenpolitik gerückt war, waren in Paris allerdings rund 200 000 Menschen - ebenso spontan - auf die Straße gegangen.