Soziale Frage beantwortet

Manfred Lauermann, Soziologe an der TU Dresden und "Wanderer zwischen den Welten", findet den Weg von der Sozialfaschismus-These zum "sozialen Faschismus".

Am 19. März stellte sich der Soziologe Manfred Lauermann im Berliner Kulturhaus Mitte der Diskussion über seinen kurz zuvor publizierten Aufsatz mit dem Titel "Das Soziale im Nationalsozialismus". Dessen Thesen lauten: 1. "Die soziale Frage war das Gravitations-Zentrum des NS-Staates" und 2. "Nationalsozialismus ist in der Substanz das verwirklichte Ideal der Sozialdemokratie". Die Schlußpointe besagt: "Im Nationalsozialismus wurde in Deutschland Politik für die Arbeiter gemacht, bisher zum einzigen Mal."

Lauermanns Aufsatz erschien nicht in einem Nazi-Blatt, sondern in der der PDS nahestehenden Berliner Debatte Initial. Im Editorial winden sich Rainer Land und Peter Ruben, um den Abdruck zu rechtfertigen. Da Lauermanns Fragen und ihre Diskussion "zum Verständnis der sozialen Frage (...) beitragen" könnten, habe man sich zur Publikation des Textes entschlossen, "obwohl er von Lesern als Denunziation der Sozialdemokratie wie als Beschönigung des Nationalsozialismus mißverstanden werden könnte".

Wieso mißverstanden? Auf welcher Grundlage unterstellen Land und Ruben ein richtiges Verständnis dieses sehr heterogenen und streckenweise konfusen Textes, um Kritik sogleich als Mißverständnis abtun zu können? Vermutlich verlassen sie sich naiv auf die gute Absicht des Autors.

Ruben und Lauermann sind langjährige Freunde - schon 1989 verneigte sich Lauermann in "Die Macht des Sozialen" (in Hannover erfolglos als Habilitationsschrift eingereicht) vor Ruben. Ich kann diese Unterstellung einer guten Absicht nachvollziehen, kenne Lauermann als gewitzten Diskutanten, der politologischen Tagungen die Langweile austreibt, und las ihn bisher, wenn überhaupt, auch so - kopfschüttelnd zwar, doch wohlwollend. Aber irgendwann ist Schluß mit lustig.

Lauermann ist einer jener Alt-68er, die Carl Schmitt rezipieren, als berührten sie damit das Numinose selbst. Günther Maschke hat es vorgemacht, wie "das Politische" Schmitts Linke ergreift; er kommentiert und ediert nun katholische Reaktionäre. Horst Mahler begnügt sich mit dem evangelisch-fundamentalistischen Hegel-Epigonen und Schmalspur-Schmittianer Günther Rohrmoser und betet für Deutschland (vgl. Jungle World, Nr. 52/97 und 1/98). Schaut man sich die vormals Kritischer Theorie verpflichtete US-amerikanische Zeitschrift Telos an und liest, wie sie nach langjähriger Schmitt-Diskussion den Kopf der Nouvelle Droite, Alain de Benoist, hofiert und gegen den "Aufruf zur Wachsamkeit" linker Intellektueller in Schutz nimmt, so ist zu vermuten, daß es sich um ein internationales Phänomen handelt. Im neuen Deutschland treibt es jedoch ganz besondere Blüten. Gestützt auf Georges Sorels Mythen-Lehre, produziert Lauermann schmittianischen Aktivismus und spielt seit Jahren den "Wanderer zwischen den Welten". Dies auf Provokationslust zurückzuführen, greift zu kurz. Zwischenzeitlich befallen Lauermann selbst Zweifel.

Im seinem Aufsatz "Nation - Dilatorischer Kampfbegriff bei Carl Schmitt" (1992) verkündete er lauthals: "Ohne das Gift Nation bleiben wir Linke ohnmächtig", schließt aber zumindest eine bange Frage an: "Wird das Gegengift helfen?" In "Die Macht des Sozialen" fürchtet er, politisch "heimatlos zu werden". Er sah sich in einer Situation, in der "die alte (linke) Identität nicht mehr gilt (und eventuell: noch nicht wieder!) und eine neue so rasch nicht zu erringen ist (oder der Absturz ins andere Lager drohend von Freunden und vom eigenen theoretischen Gewissen vorausgesagt wird)". Doch diese Bedenken hindern ihn nicht, mal hier, mal da, mal konzentriert, mal fahrig und trunken, aber immer forsch steile Thesen zu vertreten.

So auch in "Das Soziale im Nationalsozialismus". In seiner Argumentation kommt Lauermann durch ostentative Übernahme "linker" Diskurspartikel zu Ergebnissen, die mit ultralinkem Anstrich versehen sind. Jedoch kann das grelle Rot nicht darüber hinwegtäuschen, daß Lauermanns übersteigerte Kritik entscheidende Differenzen zwischen Nazismus und (sozialdemokratischem) Sozialstaat verwischt und damit von neonazistischer "Sozial"-Propaganda ununterscheidbar wird.

Dieser Brückenschlag zur äußersten Rechten wird in Details ausdrücklich bestärkt. Diskret - der gedruckte Text ist an Linke adressiert -, aber deutlich setzt Lauermann Duftmarken. Dazu drei Beispiele:

1. Zu Arnold Gehlens Nachkriegs-Umschreibungen seines Werkes "Der Mensch" (zuerst 1940) äußert Lauermann eine "Frage bzw. Vermutung", nämlich "ob die Fassungen nach 1945 nicht teilweise theoretische Innovationen zurücknehmen". Nun, auch die Nachkriegsfassungen von "Der Mensch" sind philosophisch-anthropologische Grundierungen eines Extremismus der Ordnung - also übel genug.

Will Lauermann noch mehr? Hält er die spätere Streichung jener Passagen, die eine Verbeugung vor Alfred Rosenberg bedeuteten, für einen theoretischen Verlust? Betrachtet er die im völlig umgearbeiteten dritten Teil von "Der Mensch" vorgenommene Beseitigung eines naturalistischen Fehlschlusses und die Transformation der Kategorie "oberste Führungssysteme" in kulturtheoretisch angelegte "Institutionen" als theoretische Rückschritte? Frage und Fragesteller lassen pikante Perspektiven der zukünftigen Gehlen-Debatte befürchten - immerhin arbeitet Lauermann am Institut für Soziologie der TU Dresden, dessen Direktor die Gehlen-Gesamtausgabe herausgibt. Gehlenianer wie Armin Mohler, der sich selbst als Faschist einschätzt, werden über Lauermanns "Frage bzw. Vermutung" hocherfreut sein.

2. Lauermann orakelt, der von ihm verehrte Sebastian Haffner würde mit seinen "Anmerkungen zu Hitler" (1978) "heute in der Post-Nolte-Hysterie (...) der political correctness zum Opfer fallen". Das Argument ist bei Nolte bereits vorgestanzt und bedient ein beliebtes Feindbild der "Neuen" Rechten, die mit ihrer Kampagne gegen den "PC-Terror" in der Mitte der Gesellschaft Erfolg hatte. Die Kritik an Noltes "komparativer Trivialisierung" (Peter Gay) des Nazismus, seinen Bemühungen, die Argumente der Holocaust-Leugnung wissenschaftlich akzeptabel zu machen, und seinen Rechtfertigungen des Nazi-Antisemitismus als "Hysterie" abzutun, ist mehr als fahrlässig.

3. Zwar preist Lauermann wiederholt "die wirklich innovative Leistung von Karl Heinz Roth und seiner Mitarbeiter", doch wenn er sich ihrer Forschungsergebnisse bedient, verquickt er sie mit den von Roth attackierten Thesen über den Nazismus als Modernisierung und daran anknüpfende Arbeiten der Gruppe jüngerer Geschichtsrevisionisten um Rainer Zitelmann.

Lassen letztere die nazistische Vernichtungspolitiken mehr oder minder verschwinden, schiebt Lauermann sie nur ab. In Klammern und Nebenbemerkungen ist von "sozialdarwinistischer Auslese" die Rede, Lauermann spricht von "Chancengleichheit (versteht sich: einzig für deutsche Volksgenossen)". Spekulationen, ob dies Einsicht oder der Adressierung des Textes an Linke geschuldet ist, sind müßig. Tatsächlich werden die Vernichtungspolitiken, insbesondere die Judenvernichtung, aus dem Zentrum der Betrachtung gerückt.

Lauermann präsentiert diese Operation als Kritik am neudeutschen Status quo: "1983 habe ich als Mitglied der VVN (...) in Hannover eine Gedenk-Veranstaltung über den 40. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto organisiert, und zu dieser Zeit hat das überall in der BRD fast ausschließlich die Linke gemacht. Zehn Jahre später wurde eine vergleichbare Veranstaltung (...) von den staatstragenden Parteien und der jüdischen Gemeinde organisiert (...). Die Einzigen, die 1993 nicht mehr vorhanden waren, waren die ausgeladenen und (...) ausgesonderten Linken (...). Wenn Festakte zum Nationalsozialismus von Repräsentanten des Staates zur Demonstration ihrer Schuldfähigkeit (...) inszeniert werden, dann muß eine Minorität ihre Wahrnehmungen prüfen."

Das Ergebnis dieser Wahrnehmungsprüfung ist die Interpretation des NS-Staates als "Arbeiterstaat", von der aus Lauermann den bundesrepublikanischen Umgang mit der Nazivergangenheit höchst originell zu kritisieren weiß: Diesen "Aspekt des Nationalsozialismus kann die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik Hitler nicht verzeihen, weshalb sie ihn so gemalt hat und malt, wie sie das seit 1945 mit wachsender Begeisterung zu tun pflegt. Dieses ist nämlich die Wunde, die geblieben ist: Im Nationalsozialismus wurde in Deutschland Politik für die Arbeiter gemacht, bisher zum einzigen Mal. Das, was die Arbeiterbewegung, Kommunisten wie Sozialdemokratie, versprochen hatten und nicht halten konnten, das vermochte der Nationalsozialismus. (...) Bis heute ist die Ablehnung des Nationalsozialismus im Bürgertum (...) dadurch determiniert."

Was bisher durch Textlektüre gezeigt wurde, läßt sich erhärten, wenn man die Entstehungskontexte und einige Arbeitszusammenhänge Lauermanns betrachtet. Zuweilen wird ja auf das kleine Einmaleins der Antifa-Recherche (Wer- Wann-Wo-Mit wem) abfällig herabgeblickt, und tatsächlich können die Antworten, wer wann wo mit wem hervorgetreten ist, die Analyse (des Was-und- Wie) nicht ersetzen. Sie sind aber notwendig und aufschlußreich. Auch im Falle Lauermanns, der nicht nur Autor im Neuen Deutschland ist, wo er - ganz im Sinne des politischen Intensitätsmodells Carl Schmitts und mit einer Prise Sorel - im April 1994 die politische Intensivierung von Konflikten propagierte.

Lauermann kann mittlerweile auf einige Einsätze bei der "Neuen" Rechten zurückblicken. Anfang 1989 war er zusammen mit dem Ex-Kommunarden Rainer Langhans und dem Ex-SDSler und heutigen "Nationalmarxisten"

Reinhold Oberlercher Referent bei den "7. Bogenhausener Gesprächen", die von der Burschenschaft Danubia und dem Gesamtdeutschen Studentenverband im Münchener Danubenhaus abgehalten wurden.

Seine abstruse Verharmlosung des Nazismus trug Lauermann zuerst im Juli 1997 beim "Zehnten Leutherheider Forum" vor, das von der Adalbert-Stiftung Krefeld und der Universität Hannover organisiert wurde. Bislang ist die Adalbert-Stiftung nicht einschlägig bekannt geworden; ihre Adresse ist rein zufällig identisch mit der Paul Kleinewefers-Stiftung, die frühere Leutherheider Tagungen unterstützte. Der niederrheinische Unternehmer Paul Kleinewefers ist u.a. mit dem Buch "Erneuerung aus der Mitte" (1988) hervorgetreten, in dem er zusammen mit Bernard Willms deutsche Mitteleuropa-Träume artikulierte.

Lauermann wiederum vertrat Willms, einen der widerwärtigsten habilitierten Protagonisten des reaktivierten völkischen Nationalismus der achtziger Jahre, vorübergehend an der Bochumer Universität und empfahl sich der "Neuen" Rechten im Frühjahr 1991 mit seinem Willms-Nachruf in Critic-n. Die Szene bedankte sich u.a. im März 1995 mit einer Einladung Lauermanns als Referent bei einer Geopolitik-Tagung im rechtsextremen Collegium Humanum in Vlotho.

Daß Lauermann mit (zurechtgestutzten) linken Thesen und Argumentationsmustern bei NPD-tauglichen Thesen landen kann, bestätigt die Kritik an traditionsmarxistischen Positionen, wie sie in der linken Goldhagen-Debatte vorgebracht wurde. Wenn Lauermann mal kurz auf Antisemitismus zu sprechen kommt, reduziert er ihn auf einen "dem Kapitalismus" immanenten Modus "pathologischer Krisenbewältigung". In einer für ihn typischen Märchenstunde erzählt er, was er alles gelesen habe und folgert: "Viel Neues konnte mir daher Goldhagen nicht mitteilen - die Todesmärsche wurden jahrelang jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung von 'Geschichtswerkstätten' der VVN erforscht."

"Hitlers willige Vollstrecker" scheint Lauermann nur durch den FAZ-Verriß zu kennen, wo die Beschreibung der Todesmärsche als einzig originäre Leistung Goldhagens hervorgehoben wurde. Lauermann ist weit davon entfernt, im Holocaust das kennzeichnende Merkmal des Nazismus zu sehen, Antisemitismus wird ihm zur Nebensache. Er "möchte Horkheimer widersprechen", wenn dieser schreibt: "Heere von Arbeitslosen und Kleinbürgern lieben Hitler (...) um des Antisemitismus willen, und der Kern der herrschenden Klasse stimmt in solcher Liebe mit ihnen zusammen." Lauermanns Thesen vom NS-Staat als Arbeiterstaat wären vielleicht dann diskutabel, wenn die Holocaust-Leugner recht hätten.