André Brie, Wahlkampfleiter der PDS

Vetorecht für Ostdeutsche

Sie haben gesagt, das Wahlprogramm der PDS sei als einziges von Zuversicht gekennzeichnet. Sind Sie denn nach der Verabschiedung des Wahlprogramms auch zuversichtlicher, was die Chancen der PDS bei der Bundestagswahl betrifft?

Ich war auch vor der Verabschiedung zuversichtlich. Ich kenne die Meinungsumfragen: Wir haben dort ein deutlich höheres Niveau als 1994.

Nach dem Streit um die Kandidatenaufstellung schienen Sie doch etwas frustriert.

Ja, ich sehe ein Problem. Wir wollten und haben jetzt starke Landesverbände, die selbstbewußt ihre Interessen vertreten. Aber wir müssen aufpassen, daß zusätzlich - nicht statt dessen - auch das bundespolitische Profil und die Erfordernisse eines Medienwahlkampfs gewahrt bleiben.

Trotz der Panne mit Schmähling stimmt der Kandidatenmix?

Bei Schmähling gab es ja nicht das Problem, daß die Basis ihn nicht akzeptiert hätte.

Man hat den Eindruck, Sie versuchen in der PDS zusammenzuhalten, was nur schwer zusammenzuhalten ist. Linke Opposition und Beteiligung an einem "politischen Konsens" links von der CDU. Besondere Vertretung ostdeutscher Interessen und bundesweite sozialistische Partei.

Mit dem Programm ist es weitgehend gelungen, das zusammenzuhalten. Mit Einschränkungen, bei einem Programm, das so basisdemokratisch zustande gekommen ist wie unseres.

Insgesamt ist es ein Programm, das Realpolitik, ein deutlich linkes Profil jenseits der SPD und Offenheit gegenüber Sozialdemokraten, Grünen, aber auch anderen gesellschaftlichen Kräften links von Kohl möglich macht.

Aber mit dem nachgeschobenen Rostocker Manifest hat man doch den Eindruck, die PDS legt sich sehr auf ihr Ostprofil fest.

Das höre ich auf diesem Parteitag von so vielen Journalisten, daß ich fast an Verschwörungstheorien glauben möchte. Ich halte das für völlig falsch. Erstens hat unser Wahlprogramm die Ostproblematik gegenüber dem Wahlprogramm von 1994 stark zurückgenommen, es behandelt das alles bundespolitisch. Zweitens: Das Rostocker Manifest selbst ist nicht auf Regionalpolitik gerichtet, sondern auf eins der modernsten und schwierigsten Konzepte, vor denen wir alle stehen. Und wenn ich das Zukunftsprogramm von Schäuble nehme, das vorgestern veröffentlicht wurde: Zumindest partiell stellt er diese Fragen auch. Nachhaltige Entwicklung dieser Gesellschaft, das soll in Ostdeutschland praktiziert werden als Pilotprojekt für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Und drittens: Auch Ihre Fragestellung suggeriert ja, daß man, wenn man westdeutsch oder bundesweit denken wollte, sich mit dem Desaster hier im Osten abfinden müßte. Hier gibt es offiziell 30 Prozent Arbeitslosigkeit und zum Teil real 50 Prozent. Hier gibt es nur noch 50 produzierende Betriebe mit mehr als 1 000 Beschäftigten. Hier gibt es 60 oder 65 Prozent Menschen, die nationalistische Losungen inzwischen sehr gut, gut oder eher gut finden. Dahinter steckt ein solcher sozialer oder kultureller Sprengsatz, da muß sich eine linke Partei, genauso aber auch die CDU/CSU oder die SPD mit allem Nachdruck dem Osten zuwenden.

"Stärkung des ostdeutschen Selbstbewußtseins" und "Selbstbestimmung der neuen Bundesländer", das klingt doch stark nach der Betonung einer Ost-Identität.

Es wird in Fragen des Einigungsvertrages ein Vetorecht der Ostdeutschen eingefordert. Der Einigungsvertrag kam noch zwischen zwei mehr oder weniger souveränen Staaten zustande, ist von zwei Parlamenten demokratisch verabschiedet worden, er wird seit 1990 oft genug geändert, aber einseitig und immer zu Ungunsten der Ostdeutschen.

Ein zweites Problem: Wir werden in Westdeutschland ungefähr eine halbe Million Stimmen bekommen; das ist meiner Auffassung nach sehr wahrscheinlich, das sind so 1,5 bis 1,8 oder 1,9 Prozent. In Ostdeutschland ist die Parteienbindung der Wähler viel geringer. Hier entscheidet sich der Wahlerfolg der PDS, und hier haben wir zur Zeit eine enorme Konkurrenz: Die SPD versucht sich auch als Ostpartei zu profilieren, die macht alle Vierteljahre solche Programme: viel kurzsichtiger orientiert, viel enger, als wir das machen. Aber hier stehen wir also auch unter diesem Konkurrenzdruck gegenüber der SPD, zum Teil gegenüber den Grünen und der CDU. Deshalb ist die PDS gut beraten, hier in Ostdeutschland wirklich mit Authentizität und Energie ostdeutsche Interessen zu artikulieren, aber nicht anti-westdeutsche, sondern gerichtet auf den gesamten Wandel der Bundesrepublik.

In Ihrer Rede war viel von Utopie die Rede. Wenn man das PDS-Programm liest, hat man oft den Eindruck, es geht um eine rückwärtsgewandte Utopie. Weg von den Großbanken, zurück zu Kleinunternehmern.

Nein, nein, nein. Wir haben natürlich eine aktive Mittelstandspolitik entwickelt, aber wir wollen nicht hin zu kleinen Banken. Wir wollen, daß Großbanken unter öffentliche Kontrolle gestellt werden. Ich halte das für eine hochmoderne Forderung.

In dem Programm ist aber auch die Rede davon, daß es zu einem wirklichen Wettbewerb der kleinen produktiven Betriebe kommen soll.

Das steht so nicht drin in dem Programm. Mittelständische Industrie, mittelständische und kleine Unternehmen sind nun einmal der größte Arbeitsplatzbeschaffer in dieser Gesellschaft. Sie müssen deswegen besonders gefördert werden. Wir wollen auch nicht - da gibt es sehr genaue Unterscheidungen - wegkommen von einer internationalen Arbeitsteilung, die ja zum Teil auch auf Großproduktion gerichtet ist. Es muß genau gefragt werden: Wo lohnt sich wirklich Großproduktion, wo muß Regionalisierung stattfinden? Zum Beispiel in der Lebensmittelindustrie: Warum muß Milch aus Mecklenburg-Vorpommern, weil sie dort einen Pfennig mehr pro Liter bringt, nach Holland gekarrt werden, und dann zum Verbrauch wieder zurück?

Ein weiteres Beipiel: Weg vom Euro - Sie argumentieren damit, eine große Mehrheit sei gegen den Euro. Sind das nicht die gleichen 60 Prozent, die Sie vorher angesprochen haben: diejenigen, die auch die Forderung "Deutsche Arbeitsplätze für Deutsche" gut finden?

Darüber liegen mir keine Untersuchungen vor. Ich kenne allerdings sehr viele Leute, die ein ausgesprochen internationales Profil haben und sich trotzdem gegen diesen Euro wenden. Ich glaube zum Beispiel auch, daß die Wirtschaftswissenschaftler, die sich jetzt mit zwei Klagen an das Bundesverfassungsgericht gewendet haben, ausdrücklich nicht national orientiert sind, sondern konkrete Kritik üben.

Einer dieser Wissenschaftler ist Mitgründer und Wahlkampfhelfer des rechtsradikalen Bundes Freier Bürger.

Natürlich sind hier auch rechte Gruppen gegen den Euro. Wir sagen aber nicht "Gegen den Euro", wir sagen: "Euro - so nicht". Wir sind uns da einig mit wirklich großen Internationalisten, zum Beispiel mit Pierre Bourdieu, den man wohl nicht verdächtigen kann, nationalistisch orientiert zu sein.

Sei meinen, man könne gegen den Euro sein und gleichzeitig "gegen die Nazis in den Köpfen"?

Man kann nicht alle Themen in einen Topf werfen. Wir haben wirklich konkrete Gründe, warum wir gegen diesen Euro sind. Erstens: Er ist monetaristisch orientiert. Die europäische Zentralbank orientiert sich nicht am französischen oder amerikanischen Modell, sondern an der deutschen Bundesbank. Und die Bundesbank ist außerhalb der politischen Kontrolle, obwohl sie in gigantischer Weise Politik macht. Als nach dem Beschluß zur Währungsunion Sorgen geäußert wurden, die neue Währung könnte instabil sein, hat Waigel geäußert: Die Währungsunion wird sich am Wesen der deutschen Währungspolitik orientieren. Ich begreife nicht, wie einem deutschen Politiker dieses Wort vom deutschen "Wesen" über die Lippen kommen kann.

Zweitens: Diese Währungsunion kommt ohne Sozialunion, ohne Beschäftigungsunion. Ich glaube sogar, daß die Anstrengungen vieler europäischer Staaten, die Kriterien einzuhalten, der Grund dafür waren, daß Arbeitslosigkeit so stark gestiegen ist. Und eine dritte Sache: Meiner Meinung nach ist dieses Währungsmodell eine Verwirklichung des CDU-Konzepts des Europas der zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wir kriegen eine Spaltung innerhalb der EU und ernste Blockaden für eine sehr weitreichende, von mir persönlich gewünschte politische Integration der EU.

Zurück zu den Kandidaten: Ist Täve Schur ein Glücksgriff für eine antifaschistische Partei?

Wenn Sie diese eine Bemerkung meinen ...

... "Hitler hat die Probleme ja noch in den Griff gekriegt, indem er Autobahnen baute. Heute sind die Probleme zu groß dafür." ...

... da wird man mit Täve Schur streiten, und ich bin hundertprozentig sicher, daß er diese Position korrigieren wird. Täve Schur ist von seinem ganzen Wesen ein Mensch, der internationalistisch, international denkt. Das hat er einfach erlebt, er ist mit der internationalen Friedensfahrt großgeworden, und er hat so viele Freunde international: Ich denke, da wird's überhaupt keine Probleme geben.

Sie haben gesagt, Täve Schur stehe dafür, das Leben der Ostdeutschen ernst zu nehmen. Aber man hat das Gefühl, als Politiker ist er nicht so ernst zu nehmen.

Täve Schur hat ein ganz gesundes Urteilsvermögen, da habe ich keine Zweifel. Aber Täve Schur ist natürlich kein Fachpolitiker, und auch nicht Politiker in dem Sinne, in dem das sonst so verstanden wird. Aber ich frage mich auch, wieso in einen Bundestag, der über 600 Mitglieder hat, ausnahmslos Fachexperten oder Berufspolitiker gehören. Warum können nicht normale Menschen dort vertreten sein? Eine der großen Stärken unserer jetzigen Gruppe im Bundestag ist, daß Gerhard Jüttemann dazugehört. Das ist ein Arbeiter. Gerhard Jüttemann strahlt eine solche Basis- und Bürgernähe aus, der bringt ganz andere Dinge ein, die Fachpolitiker nicht einbringen können. Ich finde, daß man in demokratischen Parlamenten solche Richtungen, wie sie Täve Schur und Gerhard Jüttemann vertreten, nämlich einfach das normale Leben von Menschen zu artikulieren, sehr ernst nehmen und auch pflegen sollte.