Plötzlicher Tod eines Anarchisten, Teil 2

In Turin wiederholen sich Szenen der siebziger Jahre. Die "Squatters" und ein toter Anarchist spielen dabei die Hauptrollen

Wieder einmal ist in Italien ein Anarchist "plötzlich" zu Tode gekommen: Am 28. März wurde der 34jährige Anarchist und Hausbesetzer Edoardo "Baleno" Massari in seiner Zelle im Turiner Gefängnis Le Vallette erhängt aufgefunden. Der Turiner Besetzersender Radio Blackout sprach in diesem Zusammenhang von "staatlichem Selbstmord". Die linksradikale Szene reagierte daraufhin mit heftigen Protesten, da sie die Ursachen für den Todesfall in den Haftbedingungen der italienischen Gefängnisse sieht.

Bisheriger Höhepunkt der Proteste war eine von den selbstverwalteten Zentren, den Centri Sociali Autogestiti, veranstaltete landesweite Demonstration am 4. April in Turin, an der sich nach Angaben von Radio Blackout mindestens zehntausend Menschen beteiligten. Die Sicherheitskräfte gaben hingegen gerade einmal halb so viele Teilnehmer an.

Bereits im Vorfeld war um die Demonstration gestritten worden, hatte es doch schon bei der Beerdigung Massaris zwei Tage zuvor Ärger gegeben. Massaris ebenfalls inhaftierte Gefährtin, die 24jährige Maria Soledad Rosas, trat in einen Hungerstreik, um so von den Behörden eine Genehmigung für ihre Teilnahme an der Beisetzung ihres Freundes einzufordern, was auch gelang: Von Carabinieri wurde sie zum Friedhof in Brosso, dem Geburtsdorf Massaris in Valchiusella bei Turin, geführt. Dort hatten sich etwa zweihundert Hausbesetzer - in Italien nach dem englischen Begriff meist "Squatters" genannt - und Anarchos zur Gedenkfeier versammelt. Einige von ihnen griffen während der Beerdigungszeremonie anwesende Journalisten an, denen man bereits vorher bedeutet hatte, daß ihre Anwesenheit an diesem Tag und Ort unerwünscht sei. Mindestens einer von ihnen, der lokale Korrespondent der Nachrichtenagentur Ansa, wurde bei den Angriffen verletzt. Verweigert wurde die Teilnahme auch dem bekannten Turiner Politologieprofessor und "Bewegungssoziologen" Marco Revelli, der diese Verweigerung, im Gegensatz zu Vertretern der Medien, auch akzeptierte.

Insbesondere die rechten Parteien wollten unter diesen Prämissen die Demonstration verboten sehen. Die faschistische Alleanza Nazionale (AN) und Silvio Berlusconis Forza Italia forderten von den Turiner Stadtoberen ein schärferes Vorgehen gegen die "Squatters". Insbesondere dem Linksbündnis Ulivo (Olivenbaum) werfen sie die Duldung der Centri Sociali und damit auch der "Gewalt" vor.

Ulivo und die gesamte institutionelle Linke verfolgen gegenüber den Centri Sociali seit geraumer Zeit eine Politik der gleichzeitigen Duldung und Ausgrenzung. Damit war man bisher durchaus erfolgreich - in Venedig beispielsweise fungieren die Centri Sociali beinahe schon als Transmissionsriemen zwischen der linksregierten Stadtverwaltung und den lokalen linksradikalen Szenen. Aus diesem Grunde war es auch nicht überraschend, daß Italiens Innenminister Giorgio Napolitano die Turiner Demonstration genehmigte - trotz der Kritik von rechter Opposition und Geschäftsbesitzern, die Ausschreitungen befürchteten.

Und prompt verlief der Aufzug nicht ganz friedlich: Es gelang den Demonstranten trotz eines großen Polizeiaufgebots, die vorher strittige und mehrfach abgeänderte Demonstrationsroute mitten in die Einkaufszone der Turiner Innenstadt durchzusetzen. Einige Schaufenster gingen dort zu Bruch, Müllcontainer wurden in Brand gesetzt. Bereits im März hatte es in Turin mehrfach gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben, in deren Verlauf Fensterscheiben verschiedener Geschäfte zu Bruch gingen.

Hintergrund: Anfang März hatte die Turiner Polizei einen Schlag gegen die örtliche Hausbesetzerszene unternommen. Ausgerüstet mit Haftbefehlen gegen Massari und zwei andere "Squatters", versuchten die Carabinieri nicht nur der drei Gesuchten - denen die Beteiligung an verschiedenen Anschlägen gegen eine geplante Hochgeschwindigkeitszugstrecke im Val di Susa zur Last gelegt wird - habhaft zu werden.

Es ging auch darum, drei der insgesamt zwölf besetzten Häuser Turins komplett zu räumen: Im Rahmen der Verhaftungsaktion mauerten die Ordnungskräfte das besetzte Casa Collegno - angeblicher Schlupfwinkel der von der Presse so bezeichneten "Ökoterroristen", die sich selbst in Anschlagserklärungen als "Lupi grigi", graue Wölfe, bezeichneten - ebenso zu wie das gleichsam besetzte Asilo, ein Gebäude in der Via Alessandria. Dort verwüsteten die Einsatzkräfte die Räume und die Habseligkeiten der Besetzer. In einem dritten Gebäude konnte die versuchte Räumung von den Besetzern verhindert werden. Im Anschluß an eine Protestdemonstration gegen die Polizeiaktion kam es dann zum Glasbruch in der Turiner Innenstadt.

Nach den wochenlangen Unruhen sind nun insbesondere die gebeutelten Geschäftsleute des Bezirks über die angeblich zu lasche Haltung der Staatsautorität gegenüber den "Extremisten" entsetzt. Einer Schätzung der Turiner Tageszeitung La Stampa zufolge soll allein durch die Demonstration am 4. April ein Schaden von umgerechnet etwa einer Million Mark entstanden sein; durch besprühte Hauswände sowie diverse eingeworfene Fernsterscheiben - darunter die eines Justizgebäudes. Aber die aufgewühlte Stimmung in Turin bewegt nicht nur Gewerbetreibende und Handelsverbände.

Auch bei der Aufführung des neuen Theaterstückes von Dario Fo, bei dem es um die unwahrscheinlichen Darlegungen des Kronzeugen im Fall Sofri geht (Jungle World, Nr. 14/98), kam es zum Eklat. Vor einem Publikum, das sich vorwiegend aus Aktivisten der Centri Sociali zusammensetzte, verursachten einige Hausbesetzer einen Skandal, indem sie an der "falschen" Stelle im Stück - bei der Ermordung des Polizeikommissars Calabresi - in frenetischen Beifall ausbrachen. Sie wurden daraufhin von Franca Rame zurechtgewiesen, die den Jugendlichen unterstellte, Provokateure zu sein. Die ganze Szene endete in einem langen Wortgefecht, an dessen Ende sich alle gegenseitig beschimpften, "Faschisten" zu sein. Das war natürlich im Fall von Franca Rame, die - wie erst kürzlich bekannt wurde - in den siebziger Jahren von Faschisten vergewaltigt worden war, denkbar unangebracht.

Dieser der Presse durchaus willkommene Streit rief viele entsetzte Stimmen auf den Plan. So die des ehemaligen 1977er Autonomia-Aktivisten "Bifo", der den heutigen Anarchisten, Autonomen und "Squatters" vorwirft, eine Art Stammeskultur zu pflegen und sich - ähnlich wie die afghanisch-islamistischen Taliban - jeglichem Dialog zu versperren.

Die Vorfälle dieser Tage haben aber auch einen Konflikt innerhalb der antagonistischen Linken Italiens verdeutlicht: Es gibt eine Strömung, die erkämpfte Freiräume durch Verhandlungen und Zusammenarbeit mit der institutionellen Regierungslinken abzusichern gewillt ist. Die Neokommunisten von Rifondazione Comunista übernehmen dabei als integrative Kraft eine wichtige Vermittlerrolle.

Die gegensätzliche Strömung steht für die Tendenz, die Centri Sociali nicht um jeden Preis zu erhalten, sondern eher ihren sozialen Rückhalt zu verbreitern. Zum Beispiel unter Fußballfans. Jüngst forderte bei der Zweitliga-Begegnung zwischen Torino und Andria ein zehn Meter langes Spruchband in der Turiner Fankurve: "Solidarität mit den Squatters - Rebellion ist berechtigt".