Noli me legere

Maurice Blanchots Schweigen über seine faschistischen Schriften.

"Das Schweigen ist unmöglich. Deshalb verlangt es uns nach ihm." Die unpersönlichen Sätze Maurice Blanchots scheinen persönliche Obertöne zu besitzen. Als er von der "Evaneszenz der Person" Mallarmés und Jouberts sprach, von des letzteren "ruhmloser, aber vornehmer Verschollenheit" oder von Sades Sehnsucht nach der "Einsamkeit des Erdinnern" - hat er da nicht auch von sich gesprochen?

Seine Gegner werten diese persönlichen Anklänge als subtile Selbst-Stilisierung. Ihnen gilt als ausgemacht, daß im Schweigen, das "Blanchot l'obscur" als Kritiker und Romancier in der Literatur gesucht hat, ein anderes, viel konkreteres und peinlicheres Schweigen verschwinden soll: das Verschweigen seiner faschistischen Vergangenheit. Und gehört nicht sogar die vornehme Verschollenheit Blanchots selbst, die Tatsache, daß von ihm keine aktuelle Fotografie bekannt ist und er es verstanden hat, seine Lebensumstände vor der Öffentlichkeit zu verbergen, zum Versuch eines Verbrechers, sich vor der Rache der Opfer zu schützen und zu fliehen vor der Schuld, dem Bekenntnis und der gerechten Strafe?

Es ist wahr: Blanchot hat die Neuauflage seiner faschistischen Aufsätze untersagt und, wenn man von einigen Briefen absieht, sich zu diesem Teil seines Werkes nach 1945 nicht öffentlich geäußert. Aber wäre es nicht eine sehr ungeschickte Art des Vertuschens und Verschweigens, seine Aufmerksamkeit gerade auf jene Zeit zu richten, in der die ominösen Texte erschienen sind? Seit wenigstens dreißig Jahren kreist Blanchots Schreiben um die "namenlose Sache, der man den Namen 'Endlösung' beigelegt hat" (Derrida). In seinem 1984 erstmals veröffentlichten Essay "Les Intellectuels en question" hat er sich auch mit dem französischen Antisemitismus und den Bedingungen der Kollaboration beschäftigt - ohne den eigenen Fall zu erwähnen.

Vielleicht ist es nicht uninteressant zu wissen, worin dieser Fall besteht. Jeffrey Mehlman ("Legacies of Anti-Semitism In France", Minneapolis 1983) hat einen Teil von Blanchots Kommentaren aus den dreißiger und vierziger Jahren analysiert, Steven Ungar ("Scandal And Aftereffect", Minneapolis/London 1995) hat Mehlmans Ergebnisse revidiert, ergänzt und in größere Zusammenhänge gestellt. Diese Untersuchungen lassen das Bild eines begabten Anhängers von Charles Maurras' Action Fran ç aise entstehen, eines jungen Faschisten, dessen politische Arbeit auf ein starkes Frankreich ausging. - Ein völkisches Frankreich jenseits der Aufklärung und der Ideale von 1789, das nur mittels einer "harten, blutigen, ungerechten" nationalen Revolution errichtet werden könne.

War er also einer jener französischen Nazis, die - wie Jacques Doriot und Pierre Drieu la Rochelle - die Europäisierung des Nationalsozialismus wünschten? - Alles andere als das. Es ist erstaunlich, zu welcher Hellsichtigkeit die scharf antideutsche Einstellung, die Blanchots Schriften der dreißiger Jahre gemeinsam ist, diesen Publizisten befähigte. Schon am 1. Mai 1933 stellt der damals 26jährige in Le Rempart eine Verbindung zwischen Hitlers "Apotheose der Arbeit" und "antisemitischen Gewalttaten" her. Zwei Monate später schreibt er verächtlich über "Hitlers pervertierten Nationalismus", seinen "Germanismus", die Vorstellung von einer "Rasse, die allen andern überlegen ist". Aber das Antidot gegen diesen pervertierten soll ein gesunder Nationalismus sein, der Macht Nazi-Deutschlands könne sich nur ein starkes Frankreich erwehren.

Im November 1936 mokiert er sich in Combat, einem Blatt, das im selben Jahr von Rechtsabweichlern der Action fran ç aise gegründet worden war, über die gemäßigte Reaktion: "Das monotone Geheul Hitlers läßt sie verängstigt und doch hingerissen, wie nach ein paar einigermaßen starken Zoten, zurück." Als seine Hauptgegner aber sieht er die Mitglieder des Front Populaire an, und in den Polemiken gegen sie schreckt er auch vor antisemitischen Invektiven nicht zurück. Léon Blums Minister nennt er "eine Bande von Degenerierten und Verrätern". Gegen diese könne nur noch Terror helfen: "Sarraut, Flandin, Mandel werden bezahlen für die Gefährdung, der sie den Frieden ausgesetzt haben (...)." Ein Satz, der auf grausige Weise in Erfüllung ging: Georges Mandel wurde am 6. Juli 1944 von kollaborierenden Milizen ermordet.

Zu dieser Zeit befindet sich Blanchot bereits auf seiten der Résistance. Anfang der vierziger Jahre hat er sich von dem Terror, dessen Teil er war, ab- und dem Konter-Terror der Literatur zugewandt. Kein Rückzug, keine Beruhigung und vielleicht die politischste Entscheidung seines Lebens. Im Journal des Débats vom 6. Januar 1942 gebraucht er ein Zitat des Kollaborateurs Henry de Montherlant gegen diesen selbst: "Den Schreibern, die während einiger Monate der Gegenwart zuviel Bedeutung zugemessen haben, sage ich - für diesen Teil ihres Werks - ein Vergessen voraus, das so vollständig wie nur möglich sein wird. Über die Zeitungen, die Zeitschriften von heute höre ich, wenn ich sie aufschlage, die Gleichgültigkeit der Zukunft hinwegrollen, so wie man das Geräusch des Meeres vernimmt, wenn man eine Muschel an sein Ohr hält." Man glaubt, eine jener Passagen aus "Der Gesang der Sirenen" (1959) wiederzuerkennen, in denen Blanchot beschreibt, wie sich der "Rede, die den gesamten Raum einnimmt", jenes "andere Wort" widersetzt, "das von jeher gesagt und nie vernommen worden ist", das Schweigen-indem-man-spricht, die poetische Rede.

Der entscheidende Anstoß zur Wende in Blanchots Denken sei von Georges Bataille ausgegangen, vermutet dessen Biograph, Michel Surya. Blanchot selbst datiert den Beginn dieser Freundschaft auf das Ende des "düsteren Jahres" 1940. Sind zu dieser Zeit alle Verbindungen zur Rechten gekappt? Paul Léautaud berichtet in seinem Tagebuch, Drieu la Rochelle habe ihm am Telefon gesagt, er lasse sich in der Redaktion der Nouvelle Revue Fran ç aise (NRF) von einem gewissen Blanchot vertreten. Das war im Jahr 1942. Blanchot selbst hat dieser Darstellung 1979 entschieden widersprochen: Er sei niemals der "Kollaborateur eines berüchtigten Kollaborateurs" gewesen, habe allerdings kurze Zeit erwogen, mit Freunden die NRF wieder zu einem rein literarischen Blatt zu machen. Als aber Drieu ausgeschlossen habe, die Zeitschrift könne z.B. Beiträge von Fran ç ois Mauriac bringen (der katholische Schriftsteller gehörte der Résistance an), habe er, Blanchot, sich zurückgezogen. Dem widerspricht wiederum der Historiker Pascal Fouché: Blanchot habe Drieu eine Zeitlang vertreten, sei aber von dessen Kumpanen als potentieller Gegner verdächtigt worden.

Blanchot mag niemals bewußt als Kollaborateur agiert haben. Mit seinen antisemitischen Spitzen gegen die Blum-Regierung jedoch, mit seiner bedenklichen Nähe zu Drieu la Rochelle und seiner Arbeit als Leiter der Literaturabteilung der "Jeune France", einer von Vichy unterstützten Kulturorganisation, hat er den Nazis jedenfalls nicht geschadet. So wenig bekannt diese Verwicklungen sind, als weniger bekannt darf gelten, daß Blanchot noch auf ganz andere Weise in das Geschehen des Holocaust verwickelt war. Emmanuel Lévinas berichtet in seinen Gesprächen mit Fran ç ois Poirié ("Emmanuel Lévinas", Paris 1987), seine Frau sei "während des Krieges" von Blanchot "gerettet" worden.

Vielleicht läßt sich sagen, daß auch Blanchot von Lévinas gerettet worden ist. Die Philosophie dieses großen Gegenspielers Heideggers hat für Blanchot eine Bedeutung gewonnen, die weit über das rein Theoretische hinausgeht. Als nach dem Tod des Heidegger-Spezialisten Jean Beaufret dessen Briefwechsel mit dem Holocaust-Leugner Robert Faurisson bekannt wurde, berichtete Le Monde (22. Januar 1988) über eine Begebenheit aus dem Jahr 1967: Zu dieser Zeit habe ein Schüler Beaufrets, Roger Laporte, Jacques Derrida von revisionistischen und gegen den Juden Lévinas gerichteten Äußerungen Beaufrets in Kenntnis gesetzt. Im Büro Derridas, der mit Blanchot und anderen zu den Autoren eines geplanten, Beaufret gewidmeten Bandes gehörte, sei es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Laporte und Beaufret gekommen, während der letzterer seine Äußerungen widerrufen habe. Man entschied sich, trotz großer Bedenken den Band erscheinen zu lassen; in letzter Minute ließ Blanchot seinem Beitrag eine Widmung für Lévinas voranstellen.

Wie könne man philosophieren, wie schreiben in der Erinnerung an Auschwitz - nur indem man weiß, es nicht vergißt und doch zur gleichen Zeit niemals wissen kann, was geschehen ist, bemerkt Blanchot in "Notre Compagne clandestine". Und weiter: "Es ist dieser Gedanke, der die gesamte Philosophie von Lévinas durchquert und trägt und den er uns, ohne es zu sagen, nahebringt, jenseits und vor aller Verpflichtung." (in: "Textes pour Emmanuel Lévinas", herausgegeben von F. Laruelle, Paris 1980)

Es ist der Gedanke, der Blanchots jüngste Arbeiten durchquert und trägt, seinen bemerkenswerten Aphorismenband "L'ƒcriture du désastre" (Paris 1980) und nicht zuletzt "Les Intellectuels en question" (dt. in "Das Unzerstörbare, München 1991), ein Text, in dem er gerade die Verpflichtung, die aus dem Holocaust erwächst, in den Vordergrund stellt: "Von der Dreyfus-Affäre bis Hitler und bis Auschwitz hat sich gezeigt, daß es der Antisemitismus (mit dem Rassismus und dem Fremdenhaß) ist, der den Intellektuellen am deutlichsten als Intellektuellen offenbart hat: anders gesagt, unter dieser Form hat die Sorge um die anderen (souci des autres) ihn gedrängt (oder nicht gedrängt), seine schöpferische Einsamkeit zu verlassen." Die Passage zeigt, wie sehr Blanchots Denken von dem seines Freundes Lévinas umgeformt wurde. Der Philosoph berichtete, Blanchot habe ihm in den zwanziger Jahren, als sie sich kennenlernten, die Schriften von Paul Valéry empfohlen. So könnte man den Weg dieses Denkens auch nachzeichnen: von Valérys "autrui me détruit" zu Lévinas' "souci d'autrui".

Aus einer so verstandenen Sorge um den Anderen hat Blanchot immer wieder seine Einsamkeit verlassen und ist zu einem Intellektuellen geworden: im Algerien-Konflikt Anfang der Sechziger, im Mai 1968, im Streit um den Nazismus Heideggers Ende der Achtziger und zuletzt, als der fast Neunzigjährige mit seinem Verleger brach, weil der eine Schrift Alain de Benoists aufgelegt hatte. Er war in diesem Sinne kein Intellektueller, als es um seine eigene Vergangenheit ging.

Es ist, als ob ein anderer diese Artikel geschrieben hätte, und vielleicht muß man das sogar in Rechnung stellen. "Noli me legere", lies mich nicht, scheint das Geschriebene zum Schreibenden zu sagen, "du wirst nie wissen, was du geschrieben hast, selbst wenn du es nur geschrieben hast, um das herauszufinden". ("Le Ressassement éternel", 1951/1983) Dahinter steht die tiefe Entfremdung vom Wort, die Blanchot mit fast allen teilt, die in diesem Jahrhundert über Sprache nachgedacht haben. Hier manifestiert sich der endgültige Verlust der Illusion, man könne etwas mitteilen, was über das alltägliche Quidproquo hinausgeht. "Durch das Gesagte gehören wir zur Ordnung, (...) sind wir Zeitgenossen", schreibt Blanchot in seinem Lévinas-Aufsatz. Zu dieser Ordnung gehörte das Bekenntnis, das er nicht abgelegt hat. Indem er es nicht abgelegt hat, indem diese Aussparung aus allen seinen jüngeren Arbeiten fast obszön hervorsticht, hat er ihm das größte Gewicht gegeben.