Deutschlandminen

Für die Union gibt es nur noch eine Perspektive: Ende September die Bundestagswahl verlieren - und zwar mit Helmut Kohl

Die Entsorgung chemischer Waffen, so war in der vergangenen Woche zu lesen, ist etwa zehnmal so teuer wie deren Produktion. Mit einem ähnlichen Problem hat in diesen Tagen die Christenunion zu kämpfen: Das Gift, das die Amtsträger der angeblichen Schwesterparteien CDU und CSU gegeneinander ausgestreut haben, läßt sich trotz intensiver Bemühungen nicht ohne weiteres wieder neutralisieren. Wo immer sich heute zwei Spitzenvertreter der Union über den Weg laufen, wissen die Journalisten bereits, über was die beiden sich aktuell streiten, und meistens haben sie damit auch recht.

Konnten Unionsanhänger sich selbst und andere bis vor wenigen Wochen noch trösten, die schlechten Umfrageergebnisse vor der Wahl seien schon fast CDU-Tradition, müssen sie sich nun auf eine Niederlage am 27. September einstellen: Zu groß ist der Vorsprung, den SPD-Kandidat Gerhard Schröder selbst in den Umfragen des unionsnahen Allensbacher Instituts mittlerweile hat, zu spärlich tröpfeln die Ideen, wie man aus dem Schlamassel binnen fünf Monaten herausfinden könnte.

Zur Vorbereitung auf die Wahlniederlage im Herbst gehört aber bereits im Frühling das Ritual der angedeuteten gegenseitigen Schuldzuweisung. Das wird zwar als schädlich, weil dem Wahlergebnis weiterhin abträglich erkannt, aber die Ermahnungen, doch bitte die Parteidisziplin zu wahren und Diskussionen zu führen bzw. nicht zu führen, richten sich immer nur an die jeweils andere Seite.

In dieser vergifteten Atmosphäre gerät dem einen oder anderen Unions-Großkopf sogar das demonstrative Bekenntnis zum innerfraktionellen Rivalen zur subtilen Hinterfotzigkeit - etwa, wenn CSU-Chef Theo Waigel, von der Süddeutschen Zeitung nach den Ursachen der Unbeliebtheit von Fraktionschef Wolfgang Schäuble in der bayerischen Partei befragt, antwortet: "Das ist nicht wahr. Wir haben Wolfgang Schäuble jedes Jahr zum Parteitag eingeladen. Wolfgang Schäuble ist nicht unbeliebt, er genießt eine hohe Achtung. Mich persönlich beeindruckt, mit welcher Kraft er sein Schicksal meistert und dabei über sich hinaus wächst." Einer, der "über sich hinaus wächst", das weiß auch Waigel, fällt irgendwann auch wieder auf sein normales Maß zurück, besonders wenn er seine ganze Kraft fürs Schicksalmeistern braucht und ergo nichts mehr fürs Bundeskanzlersein übrig bleibt. Beliebt ist Schäuble nach Waigels Meinung in der CSU auch nicht - er "genießt eine hohe Achtung"; das ist ein ziemlich großer Unterschied.

Kein Zweifel, das weite Feld der Bonner Koalition ist flächendeckend vermint, und jeder, der versuchte, es zu räumen, würde fast unausweichlich selbst auf einen Sprengsatz treten. Dazu ticken auch noch etliche Zeitbomben, deren Explosion die Christkonservativen - etwa vergangenes Wochenende in Magedeburg - wie hypnotisiert abwarten, um dann, noch bevor der Rauch sich verzogen hat, sich abermals gegenseitig für diesen Sprengkörper verantwortlich zu machen.

Die CSU kann - zumindest bis zum 13. September, dem Termin der bayerischen Landtagswahlen - darauf verweisen, sie könne es nicht gewesen sein, schließlich beackere man vornehmlich sein eigenes Terrain und greife allen anderen - namentlich dem Schäuble-Parteigänger Christoph Bergner - immer kräftig unter die Arme (worauf diese dann sofort nachsehen, ob ihr Portemonnaie noch da ist), und überhaupt: Weder habe man die Diskussion um die Kohl-Nachfolge und eine mögliche Große Koalition nach der Wahl angestoßen, noch wünsche man sie zu führen. Diese Position läßt sich mit dem Wortlaut eines Spruchs zusammenfassen, der sich an bayerischen Stammtischen großer Beliebtheit erfreut: "Dahoggandedodeschooiweidoghogdsan". Und die, so ein CSU-Dogma, auch immer da hocken werden.

Wer die Spekulationen um die Zukunft der Union in Gang gebracht hat, braucht nicht zu interessieren; sie lagen wohl einfach in der Luft. Helmut Kohl selbst hat sie mit der Nominierung Wolfgang Schäubles zu seinem Nachfolger angefacht. Daß von da ab nach jeder Niederlage seiner Partei der Ruf nach der Ablösung von deren Spitzenkandidaten lauter werden würde, das hätte Kohl bewußt sein müssen, besäße er noch den politischen Instinkt früherer Jahre. Keine zwei Wochen nach Schröders Triumph in Niedersachsen versuchten in einer Moskauer Hotelbar die "Verschwörer" um den Abgeordneten Friedbert Pflüger - der Wodka mag ihnen die Zunge gelöst haben - Vize-Fraktionschef Rudolf Seiters zu bearbeiten, daß der Kohl den Rücktritt nahelegen solle. Daß die vorhersehbare Niederlage in Sachsen-Anhalt den Druck auf Kohl abermals verstärken würde, galt Freunden wie Feinden des Kanzlers längst als ausgemachte Sache.

Der Druck wäre freilich schon längst ein viel stärkererer, wenn Schäuble für die um ihre Posten und Pöstchen fürchtenden CDU-Leute eine wirkliche Hoffnung darstellte.

In Wahrheit hat jedoch auch für die schärfsten innerparteilichen Kohl-Gegner die Perspektive einer Wahlniederlage mit Kohl eine verlockende Seite - solange die Alternative dazu eine Wahlniederlage mit Wolfgang Schäuble darstellt. Verliert Kohl, sind sie ihr größtes Problem los und können vier Jahre in der Opposition nutzen, um das eigene Profil zu schärfen und sich am politischen Gegner abzuarbeiten. Verliert jedoch Schäuble, dann steht die Union zunächst einmal ohne konzeptionelle Führung da, Machtkämpfe würden die Folge sein, wie sie die SPD in der ersten Hälfte der neunziger Jahre erlebte - und aus den vier Jahren könnten sehr viel mehr werden.