»Keine Folklore beim Europagipfel«

In Brüssel trafen sich Arbeitslose und linke Gewerkschafter zur 2. Konferenz gegen Erwerbslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse und Ausgrenzung. Ein Interview mit dem Sprecher von AC!, Michel Rousseau

Am 18. und 19. April trafen sich in Brüssel Aktivisten aus Arbeitsloseninitiativen aller EU-Mitgliedstaaten, um eine Bilanz der Euromärsche nach Amsterdam und Luxemburg im vergangenen Jahr zu ziehen und die Mobilisierung für die EU-Gipfel im Juni 1998 in Cardiff und im Juni 1999 in Köln vorzubereiten. Nach zweitägigen Beratungen wurde eine gemeinsame Resolution mit der Forderung nach einer allgemeinen sozialen Grundsicherung, der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, der Abschaffung aller losen Arbeitsverhältnisse und aller Zwangsdienste für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger als europaweiter Mindeststandard verabschiedet. Jungle World sprach mit Michel Rousseau, Sprecher der französischen Arbeitsloseninitiative AC! (Agir contre le ch(tm)mage) und Mitorganisator der Konferenz.

Markiert die Brüsseler Konferenz, auf der vor allem interne Verständigung im Vordergrund stand, nach den breiten Mobilisierungen im vergangenen Jahr den Anfang der Routine für die Arbeitslosenbewegung? Wird mit dem Nachlassen der medialen Sensationslust der Arbeitslosenprotest in Zukunft ebenso wie die Bauernproteste zur Folklore der Eurogipfel gehören?

Nein. Im vergangenen Jahr haben die Euromärsche Leute aus politisch und gewerkschaftlich völlig unterschiedlichen Richtungen zusammengebracht, die zwei Monate lang durch ganz Europa zum Amsterdamer Gipfel marschiert sind. Zur Vorbereitung dieser Demonstrationen haben wir auch letztes Jahr schon eine Konferenz in Brüssel veranstaltet, mit sehr viel mehr Leuten. Aber die fand in einem Kontext der Mobilisierung statt.

Die letzte große Demonstration in Amsterdam hat dazu geführt, daß die Regierungen zur Kenntnis nehmen mußten, daß das Problem der Arbeitslosigkeit auf die europäische Tagesordung gehört, und eine Gipfelkonferenz in Strasbourg einberufen wurde. Sie sind zumindest gezwungen worden, sich zu bewegen. Deswegen bedeuten diese Konferenzen für uns nicht einen Rückzug im Verhältnis zur breiten Mobilisierung, sondern im Gegenteil die Vertiefung der Reflexion, um eine einheitliche Plattform der verschiedenen Länder zusammenzustellen.

Das ist nicht immer einfach, wie etwa die Diskussion um eine soziale Grundsicherung zeigt: Wie kann man eine gemeinsame Regelung finden, um zu verhindern, von den einzelnen Regierungen gegeneinander ausgespielt zu werden? Das war das Ziel dieses Treffens.

Wie wurden die Entwicklungen dieses Jahres diskutiert?

In Frankreich hat die Arbeitslosenbewegung im Januar / Februar dieses Jahres einen wichtigen Schub erfahren, mit zahlreichen Besetzungen, mit Fortschritten in der Frage des Nulltarifs im Verkehr. Auch in Deutschland, in Belgien und in einzelnen Regionen Italiens und Spaniens, z.B. in Katalonien, haben sich wesentlich stärkere Bewegungen gebildet als noch im vergangenen Jahr.

Die Konferenz sollte diese Ansätze in erster Linie zusammenbringen und die Arbeitslosenbewegung auf eine kollektive Grundlage stellen - über unsere Euromärsche hinaus. Deshalb wollten wir, daß die Veranstaltung mehr den Charakter eines Kolloquiums, einer offenen Universität als den eines großen Mobilisierungstreffens hat.

Das schließt aber Mobilisierung nicht aus - im Gegenteil. Natürlich diktieren die Treffen der EU-Regierungschefs den Rhythmus - so werden wir etwa in Cardiff präsent sein -, aber es gibt auch autonome Initiativen wie die Strasbourger Brückenbesetzung am 8. Mai und wahrscheinlich im September eine breite Mobilisierung in Deutschland.

Denn gerade weil die Bewegung wächst, bleiben die Euromärsche das Bindeglied zwischen Arbeitsloseninitiativen, gewerkschaftlichen und politischen Gruppen, die oft sehr unterschiedliche Meinungen und Ansätze vertreten.

Wie entwickelt sich das Verhältnis der Arbeitslosen-Initiativen zu den Gewerkschaften?

Bis vor kurzem haben die Gewerkschaften die Arbeitslosen zwar nicht direkt ignoriert, aber die Bedeutung des Problems Arbeitslosigkeit nicht erkannt: Die Arbeitslosigkeit wurde als temporäre Erscheinung angesehen und nicht als ein Problem, mit dem jemand unter Umständen sein ganzes Leben lang zu kämpfen hat. Dadurch ist eine Bevölkerungsgruppe entstanden, die sich völlig vom Gewerkschaftsmilieu abgetrennt hat und die, um sich Gehör zu verschaffen, Arbeitslosenvereinigungen gegründet hat. Diese sind zwar zunächst noch minoritär, stoßen aber auf ein immer größeres Echo.

Zunächst in Frankreich, aber dann sehr schnell auch in den anderen Ländern wurden also die Gewerkschaften gezwungen, sich mit dem Problem der Arbeitslosigkeit zu befassen und sich darüber klarzuwerden, daß man diese Frage nicht ohne die Arbeitslosen selbst erörtern kann. Also hat man versucht, Zusammenhänge zu schaffen, damit Arbeitslose und Gewerkschafter gemeinsam gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen können. Inzwischen haben die Arbeitslosenorganisationen in Frankreich untereinander wie auch mit den Gewerkschaften, vor allem mit der KP-nahen CGT, schon recht dauerhafte Strukturen entwickelt. Auf deutscher Seite sind die Arbeitslosenverbände heute mit dem DGB assoziiert, was noch 1997 zum Zeitpunkt der Euromärsche undenkbar schien.

Warum gibt es auf der Konferenz kein Forum zum Thema Vormarsch rechter und faschistischer Kräfte in Europa?

Dies ist keine politische Konferenz, auch wenn viele Teilnehmer politischen Organisationen angehören. Wir stellen daher auch keine direkt politischen Fragen, weil wir denken, daß es beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht darauf ankommt, ob jemand Marxist, Christ oder Sozialdemokrat ist.

Natürlich sind hier alle der Meinung, daß, wenn es nicht gelingt, eine umfassende europäische Lösung für das Problem der Arbeitslosigkeit und der losen Arbeitsverhältnisse zu finden, den reaktionären und faschistischen Tendenzen ein weites Feld eröffnet wird. Die anwesenden Arbeitslosen- und Gewerkschaftsverbände formulieren das Problem im Hinblick auf die Forderung nach Arbeit, nach sozialer Grundsicherung und gegen die prekären Arbeitsverhältnisse. Indem wir Regierungen und Gewerkschaften dazu bringen, positive Antworten auf diese Fragen zu geben, werden wir auch den rassistischen, faschistischen und reaktionären Ansätzen entgegentreten.

Hätte man nicht trotzdem explizit gegen Rassismus und gegen die Ausschlachtung des Euro-Unmuts durch faschistische Kräfte Stellung beziehen müssen? Müssen sich die Arbeitsloseninitiativen nicht prononcierter von nationalistischer Politik absetzen?

Ja, aber das haben wir schon getan. Letztes Jahr haben wir eine Erklärung verfaßt, in der sich die Euromärsche und die Arbeitsloseninitiativen klar gegen die neoliberale Politik in Europa positioniert haben. Man kann das zwar noch fünfzigmal wiederholen, aber es ist bereits gesagt, geschrieben und klargestellt worden. Und auf der anderen Seite zeigt die Tatsache, daß es sich hier um eine europäische Bewegung handelt, die sich ja sogar über die Grenzen Europas hinaus zu öffnen versucht, doch deutlich die internationalistische Basis.

Kurzum, niemand auf dieser Konferenz hat irgendwelche nationalistischen Ansätze verteidigt, im Gegenteil, alle haben sich mehr oder weniger vehement zu den Konsequenzen der Maastrichter Verträge und der Konvergenzkriterien geäußert, zu den hauptsächlichen Gründen für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren zählen.

Wie kann sich die Arbeitslosenbewegung der Vereinnahmung durch die EU-Kommission entziehen?

Wir werden natürlich zu den Konsultationen im Juni erscheinen und unseren Widerstand äußern, aber Priorität hat der Aufbau einer öffentlichen Gegenmacht - mit öffentlichen Aktionen wie Besetzungen von Arbeitsämtern und einem Bündnis mit gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen.

Wenn man uns zu irgendwelchen Sozialgesprächen einladen will, zeigt das doch nur, wie beunruhigt die europäischen Regierungen vor allem in Frankreich und Deutschland angesichts der Perspektive eines koordinierten Widerstands der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten sind. 20 Millionen Arbeitslose und 50 Millionen Arme in Europa sind immerhin eine recht ansehnliche Basis für ein Bündnis der Sozialinitiativen gegen das Europa von Maastricht.