Der Bravo-Anthropologe rät

Strenger Geruch

Wenn unsere Eltern früher "Schund" sagten, wenn wir Bravo lasen, und damit die in diesen Heften zaghaft propagierte Libertinage meinten, so mögen sie damit im Unrecht gewesen sein. Das Verdikt als solches ist damit längst nicht vom Tisch, und manchmal, wenn man unambitioniert in einem Titel aus der schier ausufernden Lektüre für jugendliche Käuferschichten blättert, kommt es einem jäh wieder in den Sinn.

In diesem Fall war es ein - für das Genre durchaus nicht untypischer - Beitrag in einem April-Heft von Bravo Girl!, Titel: "Was Dein Gesicht über Dich verrät". Nein, nicht, was man gemeinhin annehmen würde: Ränder unter den Augen: Gestern zu viel gesoffen und zu wenig geschlafen; Gesichtsfarbe Rot: Bluthochdruck oder Sonnenbrand. Sondern: "Die Chinesische Kunst des Gesichtlesens hilft Dir, Dich selbst besser kennenzulernen und andere auf den ersten Blick zu durchschauen." Und weiter geht's: "Die chinesische Lehre geht davon aus, daß in einem Gesicht Wesen und Schicksal eines jeden Menschen geschrieben stehen. Anhand von bestimmten Merkmalen soll es möglich sein, so die Siang-Mien-Meister, einen guten oder schlechten Charakter zu erkennen, ein positives oder negatives Gemüt, eine glückliche oder unglückliche Zukunft."

Zum Beispiel - warum auch nicht - an der Nase. Die klassische Hakennase heißt in diesem Kontext "Adlernase" und "deutet auf Willensstärke und eine gewisse Aggressivität hin". Wohingegen die "spitze Nase" als "ein Zeichen für seelische Kälte" angesehen werden muß. "Zeigt die Nase außerdem noch deutlich nach unten" - wie bei der Adlernase also -, "ist ihr Besitzer nicht sehr zuverlässig und nimmt es mit der Treue nicht genau." Daß man bei Leuten, bei denen diese Merkmale ausgeprägt sind, besser nicht einkauft, versteht sich von selbst.

Einer Reihe weiterer phänotypischer Merkmale (Schädelform, Augenabstand, Form der Lippen) werden charakterliche Eigenschaften zugeordnet, damit Bravo-Girls und

-Boys sich im Leben zurechtzufinden wissen. Traditionelle Lehrinhalte des Bio-Unterrichts, die aus kurzfristigen politischen Opportunitätserwägungen neuerdings allzuoft unterschlagen werden, bekommen Jugendliche auf diesem Wege nachgereicht.

Wohlweislich berufen sich die namenlosen Bravo-Anthropologen auf "altchinesische" Quellen, die niemand nachprüfen wird und kann. Dabei hätten umfangreiche Forschungen deutscher Wissenschaftler aus der jüngeren Vergangenheit über den Zusammenhang von Schädelmaßen und rassischer Wesenheit es es auch schon getan. Aber der fernöstliche Spiritualismus kommt natürlich viel smoother daher, irgendwie nicht so menschenverachtend. Kein Wunder, daß der Geist von Dreizehn- bis Neunzehnjährigen mitunter ein wenig streng riecht, wie es in einem populären Grunge-Song der letzten Jahre sinngemäß heißt.