Unfreundliche Freundlichkeit

Eine Antwort auf Diedrich Diederichsens "Der Boden der Freundlichkeit".

Die Kulturlinke habe ich mir immer als eine Gruppe cooler Gymnasiasten vorgestellt. Sie tragen die coolsten Hemden, die coolsten Brillen, sie kennen die coolsten Bücher, die coolsten Platten, die coolsten Polit-Aktionen. Sie stehen in der Ecke des Schulhofes, und wenn der Klassentrottel vorbeischleicht, kriegt er vielleicht mit, daß der eine Schüler zum andern sagt: "Ich hörte neulich, die neue Whirlpool Productions soll ganz okay sein", selbstverständlich ohne bei dem anderen große Überraschung auszulösen, weil der die neue Whirlpool Productions längst schon besitzt. Vielleicht ist es aber auch so, daß keiner der Jungs noch viel mehr als ein Wort sagen muß; Bands stehen für Weltanschauungen, Markennamen für Gefühle, manchmal genügen Gesten oder Blicke, damit dem Gegenüber alles klar ist - so sicher und warm wird jeder vom Verstehen der andern umspült. Bloß der Klassentrottel versteht kein Wort, er kennt noch nicht einmal Whirlpool Productions.

Für den spiritus rector dieser verschworenen Gruppe hätte ich bis letzte Woche Diedrich Diederichsen gehalten. Doch da mußte ich aus der Jungle World erfahren, daß Diederichsen sich gar nicht dazuzählt. "Kulturlinks" sei bloß eine "Zuschreibung", eine "Schmähkategorie". Und einige Zeile später hält er Autoren dieser Zeitung vor, nicht mehr links sein zu wollen. Das nenne ich eine Volte: Indem Diederichsen seine alte Rolle nicht mehr spielen will, beklagt er sich darüber, daß wir aus der Rolle fallen. Aber gilt nicht gleiches Recht für alle?

Das wäre freilich ein amüsantes Spiel: Wer bislang als kulturlinks galt, gehört ab heute zur radikalen Linken. Wer bis letzte Woche zu der radikalen Linken zählte, gilt nun als kulturlinks - oder gar als rechts, als Opportunist, als Verräter, als Verrückter? Nichts gegen Abwechslung, aber einiges an Diederichsens Text scheint mir doch darauf hinzudeuten, daß die Metamorphose auf beiden Seiten noch nicht vollzogen ist. Etwa beginnt Diederichsen seinen Absatz über unser Gollwitz-Dossier (Nr. 49/1997) mit den Worten: "So hörte ich neulich, daß sich Leute aus dem Jungle World-Umfeld nicht mehr auf die Linke berufen wollen, weil auch PDS-Politiker, mithin nominell Linke, sich an einer rechtspopulistischen Ablehnung eines Heims für russische Juden beteiligt hätten."

"Rede, daß ich dich sehe!" (Hamann) Ein Linksradikaler würde nie und nimmer so formulieren wie Diederichsen, denn zwar sind Linksradikale dafür bekannt, daß sie Zitate aus dem Zusammenhang reißen, Tatbestände gröblich vereinfachen, der Polemik und Agitation einiges zum Opfer bringen. Aber sie können doch nicht von der Marotte lassen, Orte und Autoren von Texten anzugeben. "So hörte ich neulich", das klingt doch immer noch sehr nach Kulturlinke. Denn wer sonst würde es wagen, eine schwerwiegende Kritik mit dem hingeworfenen Bekenntnis einzuleiten, daß er die fraglichen Aufsätze noch nicht einmal gelesen hat?

Was hat Diederichsen gehört? Es seien im Zusammenhang mit dem Gollwitz-Skandal "Formulierungen" aufgetaucht "wie die, daß sich progressive Kräfte nicht mehr 'links nennen könnten'". Tatsächlich hat Jürgen Elsässer in "Nach Gollwitz: What's left?" die Beobachtung gemacht, daß bürgerliche Journalisten und Politiker die Vorgänge um Gollwitz scharf kritisiert haben, während die Linke und vor allem die sozialistische Linke Verständnis für den Rassismus und Antisemitismus der Gollwitzer zeigte. Seine Folgerung: "Heute ist es nicht nur illusionär, sondern reaktionär, sich positiv auf die Linke zu beziehen". Und: "Kommunismus müßte auch gegen die überwältigende Mehrheit der Kommunisten durchgesetzt werden."

In diesen Postulaten liegt ein Widerspruch, das sieht Diederichsen ganz richtig, und ich bin Elsässer dankbar dafür, daß er uns in diesen Widerspruch getrieben hat: Wer links sein will, muß bereit sein, das Links-Sein preiszugeben. Ein Widerspruch zunächst, der sich aus der Bewegung des Denkens ergibt. Wer denkt, muß verwerfen, was er gedacht hat und so das Gedachte einer immer neuen Revision unterziehen. Denn was gedacht ist, ist durch die begriffliche Gestalt, zu der es gerinnt, bereits vergesellschaftet, ideologisch verseucht, es ist verdorben. Wer denkt, muß also stets aufs neue die Formen zerbrechen, in denen sich Denken verfestigt, er muß seine Begriffe einer immer neuen scharfen Prüfung unterwerfen, d.h. er muß sie auflösen. Denken ist die Tätigkeit des Kritikers, nicht desjenigen, der - obwohl es keine Partei mehr gibt - auf die nächste Weisung des Zentralkomitees wartet. Für letzteren ist sicher, was links ist, für ersteren muß dieser Begriff, gerade weil er ihm etwas wert ist, auf dem Spiele stehen.

Und zweitens geht es in den widersprüchlichen Formulierungen Elsässers um das, an was Gollwitz in besonders unangenehmer Weise erinnert hat: Antisemitismus. Diederichsen schreibt: "Nicht nur die Lächerlichkeit, dieses vergleichbar kleine linke Verbrechen zum Anlaß zu nehmen, mit der Kategorie zu brechen, (Ö) nimmt einen wunder, sondern wie die plötzliche Verantwortlichkeit derjenigen, die sich sonst gerade durch die Ablehnung, für andere Linke Verantwortung zu übernehmen, kennzeichnen, zu derart weitreichenden Konsequenzen führt." Also ist Antisemitismus, so wie er sich in der orthodox-linken Reaktion auf Gollwitz gezeigt hat, ein "vergleichbar kleines linkes Verbrechen"? Genau diese Einschätzung ist der "Goldhagen-Linken" unerträglich geworden.

Antisemitismus ist das Verbrechen des Jahrhunderts, er ist gleichzeitig ein Verbrechen wider den Geist, in einem Maße, das einem verbietet, davon zu sprechen, daß ein Antisemit im strengen Sinn des Wortes denkt. Den sehr häßlichen Versuch der Linken, dieses Verbrechen zu verharmlosen, gab es vor Gollwitz, es gab ihn in manchen Reaktionen auf Elsässers Artikel, und es gibt ihn nicht zuletzt in Diederichsens Aufsatz. Aus dem Gollwitz-Dossier spricht die Sehnsucht, wieder zu denken. In einer Hinsicht kam es zu spät: Der Bruch hätte früher eintreten müssen. Vielleicht hat gerade jene Freundlichkeit, die, wenn es nach Diederichsen ginge, "zur grundlegenden Denkgeste der Linken werden müßte", es verhindert, daß wir uns früher von linken Antisemiten im allgemeinen und vom nationalbolschewistischen Pofel im besonderen getrennt haben.

Jene Freundlichkeit, die zugleich eine Unfreundlichkeit den Anderen gegenüber ist. Wenn eine Freundlichkeit zu fordern ist, dann doch wohl jene, die Emmanuel Lévinas mit "hospitalité" oder "droiture" umschrieben hat, mit Worten, die unübersetzbar sind, weil das Deutsche sie verfälschte. Sie meinen eine andere "Verantwortlichkeit" als die, die Diederichsen uns unterstellt. Sie meinen eine Gerichtetheit auf den Anderen, das heißt eigentlich den Un-Identifizierbaren, und eine kategorische Abwendung vom Eigenen. Die Anderen, das können nicht diejenigen sein, mit denen wir gestern noch verwechselt worden sind, es können nicht die "Linken" sein. Die Anderen, das sind die Fremden, die Asyl suchen in Deutschland. Es sind z.B. die jüdischen Aussiedler, die in Gollwitz leben wollten. Sie sollten wir willkommen heißen. Und das bedeutet zur gleichen Zeit, Abschied zu nehmen von einem besonders häßlichen Teil der Linken. Es bedeutet, um zum Bild vom Anfang zurückzukommen, sich der eigenen peer group systematisch zu entfremden, sich dem linken Sprachspiel und den vertrauten Umgangsformen zu entziehen und kein Komplize mehr zu sein.

Bedeutet es aber, aufzuhören, links zu sein? In einem bestimmten Sinn gewiß. Aber insofern die Gedanken der Emanzipation, des Antifaschismus und der Zersetzung der herrschenden Ideologie links sind, wird auch diese Entscheidung eine linke gewesen sein.

Was nun diejenigen betrifft, die - ob "Kulturlinke" oder nicht - darauf hinweisen, daß "reine Politik sowieso nicht zu haben" ist, und die fordern, "Lebensformen bewußter (zu) gestalten, (zu) diskutieren und zum Gegenstand der Reflexion (zu) erklären", so ist ihnen zugute zu halten, daß eine aufmerksame Beobachtung der Lebensformen unserer linken Gegner den Bruch vielleicht früher herbeigeführt hätte. Hätten nicht bestimmte Charakteristika ihres Auftretens - von Herrenwitz bis Schwulenhaß - uns darauf hinweisen können, wie ihre marxistischen Elaborate richtig zu lesen sind? Das sei zugestanden. Aber in Diederichsens System ist solche Heuristik gar nicht einsetzbar. Über den immer kontingenten Existenzweisen, den sich wandelnden "Symbolsystemen, Musik-, Sprach- und Lebensformen", schwebt die ewige "Rechts-Links-Unterscheidung", deren "Leistungsfähigkeit" nicht angezweifelt werden darf.

Es soll zwar möglich sein, reichlich Beobachtungen zu machen, sie dürfen bloß nie die fundamentalen Kategorien bedrohen. Dann möchte ich aber kein Pop-Empiriker sein, wenn sich aus der Empirie keine Folgerungen für das Denken ergeben.