Identifizieren Sie sich!

Vor der Abstimmung über die Unabhängigkeit der Westsahara geht es vor allem um eines: Wer ist überhaupt Saharaui und wer nicht?

Bis Ende dieses Monats soll Charles Dunbar, der Sondergesandte der Vereinten Nationen (UN) in der Westsahara, seinem Generalsekretär Kofi Annan einen Plan vorlegen, wie der Konflikt um die Unabhängigkeit des Landes gelöst werden soll. In seinem Rechenschaftsbericht vom 18. Mai hatte Annan zuvor eingestanden, das Referendum über die Zukunft der Westsahara könne nicht wie geplant am 7. Dezember dieses Jahres stattfinden. Während Dunbar mit einer Verzögerung von zwei Monaten rechnet, gibt sich Mohamed Abdelaziz, Chef der Volksfront für die Befreiung von Sagu'a al-Hamra und R'o de Oro (Polisario), wesentlich pessimistischer. Ein "Wahltermin in den ersten Monaten des nächsten Jahres" ist für ihn nicht mehr als eine vage Hoffnung.

Die Saharauis sollen zu den Urnen gerufen werden, um "die marokkanische Identität der südlichen Landesteile" im Sinne der Regierung in Rabat zu bestätigen oder um "einen unabhängen Staat aus der Taufe" zu heben, wie Abdelaziz erwartet. Darauf einigten sich vergangenen September im US-amerikanischen Houston die marokkanische Regierung und die Frente Polisario unter Vermittlung des Dunbar-Vorgängers James Baker. Von einem "grundlegenden Wandel" Marokkos in dem seit Abzug der spanischen Kolonialmacht bestehenden Konflikt, den die Polisario in Houston noch begrüßte, mag Abdelaziz mittlerweile jedoch nicht mehr sprechen. Die marokkanische Regierung versuche vielmehr, das Referendum zu manipulieren und übe "Druck auf die Bevölkerung innerhalb des seit 1976 militärisch besetzten Territoriums der Westsahara" aus. Auf einer Veranstaltung zum 25jährigen Bestehen der Frente Polisario am 20. Mai forderte Abdelaziz, der auch der Exilregierung der Arabischen Demokratischen Republik Sahara (DARS) vorsteht, von Marokko, "die Repression und Bedrohung der ehrenwerten Saharauischen Scheichs in den besetzten Gebieten zu beenden".

Hauptstreitpunkt ist die Stimmberechtigung beim Referendum. In einem "Identifikationsverfahren" überprüfen Kommissionen, zusammengesetzt aus Vertretern der UN und beiden Verhandlungspartnern, ob die wahlwilligen Antragsteller mindestens eines der in dem Abkommen festgelegten Kriterien erfüllen. Die Bewerber selbst oder ihre Familie müssen danach entweder bei der spanischen Volkszählung von 1974 registriert worden sein oder mindestens sechs Jahre durchgehend - alternativ zwölf Jahre mit Unterbrechungen - in der Westsahara gelebt haben. Die letzte Möglichkeit zur Aufnahme in die Wahllisten ist, sich die "saharauische Identität" durch zwei Zeugen bestätigen zu lassen.

Dieses Procedere ist zwischen der Regierung des marokkanischen Königs Hassan II. und der von rund achtzig Staaten anerkannten DARS nicht unumstritten. Die in ihrem Exil im südalgerischen Tindouf arbeitende Regierung von Abdelaziz sähe gerne nur jene 75 000 Saharauis stimmberechtigt, die 1974 von den spanischen Kolonialbehörden erfaßt wurden. Von ihnen verspricht sich die Polisario ein mehrheitliches Votum für die Unabhängigkeit - auch wenn bisher nicht gesichert ist, daß die in algerischen Flüchtlingslagern Untergebrachten überhaupt zurück wollen. Die marokkanische Seite beharrt hingegen auf die Zulassung von Stimmberechtigten, die - so ist aus der marokkanischen Hauptstadt Rabat zu hören - bereits vor dem Jahr 1974 nach Marokko flüchteten. Insgesamt sind bei der UN derzeit 111 244 Wähler registiert, knapp 50 000 weitere sollen noch überprüft werden. Die Polisario befürchtet, König Hassan II. wolle so mit "falschen Saharauis" die Abstimmung in seinem Sinne beeinflussen. Das sieht sie durch ein Dokument bestätigt, in dem der marokkanische Innenminister Driss Basri die Gouverneure des Landes "strikt" anwies, etliche Bewerber für den Auftritt vor den Identifikationsbüros in Workshops zu "präparieren".

Schon die für 1992 und 1995 geplanten Referenden waren an der Stimmberechtigungsfrage gescheitert, nachdem es zuvor den UN mit der Resolution 690 gelungen war, die Kontrahenten 1991 auf einen Waffenstillstand festzulegen. Ginge es nach dem marokkanischen Staatschef, müßte gar nicht über den Verbleib der Westsahara abgestimmt werden. Für ihn ist ein unabhängiger Saharaui-Staat "in strategischer, ideologischer und politischer Hinsicht als auch im Hinblick auf den Zugang zum Atlantik undenkbar". Schließlich habe Marokko in den mehr als 20 Jahren der Besetzung Westsaharas mehrere Milliarden US-Dollar in den Ausbau der Infrastruktur investiert.

1975 marschierten marokkanische Soldaten in der Westsahara ein, wo bereits seit 1973 Guerillagruppen gegen die spanischen Kolonialtruppen kämpften. Nach dem Abzug der Spanier, die das Gebiet im "Teilungsabkommen von Madrid" Marokko und Mauretanien überließen, gab auch Mauretanien im August 1978 seine Ansprüche auf. Seitdem ist das Land vollständig unter marokkanischer Kontrolle. Internationale Appelle, ein Gutachten aus Den Haag und verschiedene UN-Resolutionen über eine Verhandlungslösung wurden von Hassan II. meist ignoriert. Zu lukrativ sind die Fischbänke an der Atlantikküste sowie die Reserven an Phosphat, Wolfram, Chrom, Zinn oder Erdöl, die Experten in der Wüstenregion vermuten. Bis 1991 konnte sich der Monarch zudem auf die Rückendeckung der USA verlassen. Als zuverlässigen Bündnispartner in einer "strategisch wichtigen", aber unruhigen Region, unterstützte die USA Marokko durch Rüstungshilfe. Dennoch belastete der Krieg gegen die Polisario den Staatshaushalt, der sich seit 1983 an Auflagen des Internationalen Währungsfonds orientieren muß, erheblich. Vom Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen versprach sich der seit über 37 Jahren herrschende Hasan II. vor allem auch eine Stärkung seiner innenpolitischen Position.

Da dem Waffenstillstand ein bis heute währender Verhandlungsstillstand folgte, drohte der damalige UN-Generalsekretär Butros Butros-Ghali Ende Mai 1996, die UN-Mitarbeiter abzuziehen und die Vorbereitung des Referendums auszusetzen. Die Polisario kündigte für diesen Fall die Wiederaufnahme des Guerilla-Kampfes an, woraufhin Washington - an weiterer Unruhe im Magreb nicht interessiert - den ehemaligen Außenminister Baker als UN-Sondervermittler ins Rennen schickte. Dieser brachte zwar das Abkommen von Houston zustande, vermochte die zentrale Frage der Wahlberechtigung jedoch nicht zu lösen.

Umstritten ist der Eintrag jener Personen, die der Polisario als "Stammesgruppen" marokkanischer bzw. mauretanischer Herkunft gelten, während Marokko diese als Saharauis definiert wissen will. Schließlich hätte Marokko gegen ein Votum für den Status quo gewiß nichts einzuwenden. Denn Hassan II. präsentiert sich durch die Aufnahme der Opposition in die Regierungskoalition Anfang dieses Jahres zwar innenpolitisch gestärkt, die Kosten eines erneuten militärischen Konflikts aber könnten den wirtschaftlichen Nutzen Westsaharas zunichte machen.