Die 33-Zentimeter-Norm

"Boogie Nights": Auf das Gesetz des Vaters ist Verlaß, auch in der Pornofamilie

Obwohl das ein Risiko ist bei diesem Film, bin ich extra nicht ins englischsprachige Kino gefahren, eine Spätvorstellung in Berlin-Neukölln könnte bedeutend aufschlußreicher sein. - War sie. Selten sieht man sonst so viele bürgerliche Schwulenpärchen im Kino, neben den obligatorischen frisch verliebten Heten und fiebrigen Jungsgrüppchen. Hörbar waren während der Vorstellung aber vor allem die Frauen, die permanent kreischten, oder Szenen, die eigentlich schrecklich waren, für unglaublich komisch hielten. Obwohl es in dem Film, dessen Stars der 33-Zentimeter-Schwanz von Dirk Diggler und der Phallus an sich sind, keine Hardcore-Fickszenen gibt, funktioniert "Boogie Nights" doch als Porno. Die Kamera muß inzwischen nicht mehr das Ding, um das sich alles dreht, einfangen, das kann sich einfach jede/r dazu denken.

"Boogie-Nights"-Regisseur Paul Thomas Anderson ist jener Typ eines Wissensverwalters des Pop, wie er nur unter US- amerikanischen Jugendlichen anzutreffen ist. Nicht nur, daß er die gesamte Postergalerie - "Engel für Charlie" plus Corvette plus Bruce Lee und Al Pacino als Jesus - original in Eddie Adams (von Marky Mark/Mark Wahlberg) Zimmer hängt. "Boogie Nights" kennt auch die richtigen Post-Travolta-Disco-Schritte und zeichnet selbst den Imagewandel einer Nebenfigur vom schwarzen Country- zum Gospel-Fan ˆ la Stevie Wonder akribisch nach.

Alles kommt vor, die musikalische Verdüsterung und Entharmonisierung Hot Chocolates, das Boogie-Child der Bee Gees, "Sunny", ELO, Elastika- Hosenanzüge mit Spaghettiträgern, Rollerblades und die Größenwahnhabits verkokster Angelitos. Regisseur Anderson hat seinen Protagonisten Eddie, dessen Schwanz ihn später - zu Dirk Diggler machen wird, durch die Zeiten geschickt; erst naiv mit Glam im Nachtclub Boogie Nights, als Tellerwäscher im Post-grunge-button-down-shirt, dann als Pornodarsteller mit Anti-Vietnam-Hippie-Touch, Bruce-Lee-Stirnband und Rockstar-Attitüde über den Jahreswechsel 1979/80, um ihn am Ende als Miami-Vice-Anzug tragenden Achtziger-Jahre-Koks-Versager wieder auferstehen zu lassen. Von hedonistischem Disco-Hip zu einem Image, an dem sich Typen wie Falco visuell abgearbeitet haben.

In der Schlußszene steht Eddie - reales Vorbild der Figur ist der verstorbene Pornodarsteller John Holmes - vor dem Spiegel, sein bevorzugter Platz, um Zwiesprache mit seinem Schwanz zu halten. Dabei trägt er diesen unsäglichen weißen Anzug mit Seidenhemd. Er holt sein "Talent" aus der Hose und gratuliert ihm zum Star-Dasein: Das ist der filmische Höhepunkt, zum ersten und letzten Mal kriegen wir das zu sehen, was sich sonst nur in den beeindruckten, neidischen, gierigen, anerkennenden oder verängstigten Blicken der anderen spiegelt. Dieses 33-Zentimeter Ding - ein Schullineal ist 30 Zentimeter lang - ist Eddies Handwerkszeug, der eigentliche Star.

Im Kino hört man Frauen ungläubig aufstöhnen, Männer verstummen. Dieses Geschlecht ist eine Bedrohung und funktioniert - in Butlers Hate-speech-Lesart - ähnlich wie das Viagra-Prinzip als eine Handlungsanweisung. Die Aussage "Ich habe Viagra genommen" beschreibt eben nicht nur die Einnahme eines Erektionsmittels, sondern denkt die erektive Wirkung gleich mit. Dirk Digglers Verweis auf sein Geschlecht oder die Potenzandrohung durch Viagraeinnahme sind Forderungen nach Anerkennung und Beschäftigt-Werden. So, als ob dieses Ding ein Naturrecht einfordern könnte, behandelt zu werden, und der Mann, der an diesem potenten Phallus hängt, nurmehr zum Mittler der Forderung wird.

Nach diesem Schema agiert auch Dirk Diggler, wenn er Koks-gepusht auf dem Set rumbrüllt, daß er jetzt verdammt noch mal ficken oder sich - ganz Körperarbeiter - an seiner Produktionseinheit abarbeiten muß, wenn die, mit Drogen vollgepumpt, die geforderten Leistungen nicht mehr bringen.

Auch wenn Dirk Digglers Penis das Zentrum der Geschichte ist, das Spannende an "Boogie Nights" ist der Versuch, die permanente Gleichzeitigkeit von konstruiertem Leben im Porno und dem sexualisierten Leben außerhalb des Sets zu zeigen. Diese Mischung aus Job und trendy Hedonisten-Dasein am Pool, mit fett Koks und vielen schicken sexy Leuten. Eigentlich geht es, auch wenn nicht gedreht wird, immer um Sex, für den Produzenten, Macher, Lenker und Vater Jack Horner vor allem um Kontrolle und Macht über die, die Sex machen und Sex-Machen spielen. Kann man Sex spielen, ohne Sex zu machen?

Für Jack Horner (Burt Reynolds) ist der persönliche Lebensentwurf auch der professionelle. Er schafft sich eine Familie, die als intakt gilt, wenn sie ständig und am besten vor seinen Augen vögelt.

Die Szene, in der Eddie sich bei Jacks Frau um den ersten Job bewirbt - er nimmt sie während des Castings auf dem Tisch (nicht vergessen: in den Siebzigern hatten Pornos noch eine Story), ist die einzige des Films, worin eine Frau Anweisungen geben darf, die über das übliche "Spritz-auf-meine-Titten-ab-komm-bloß-nicht-in-mir" hinausgehen.

Daß Frauen im Porno nichts zu sagen haben, wird in Boogie Nights spätestens dann klar, wenn Jack Horner aufs Video-Geschäft umsteigt. Das, was an den Zelluloid-Produktionen kritisiert wurde, etwa der gewalttätige Umgang Dirk Digglers mit Frauen in einem Streifen, der allerdings mehr an ein Beastie Boys-Video als an Porn erinnert, ist unter den schnellen Videoproduktionen, in den Achtzigern ein Muß.

In der Zwischenzeit, als sich Teile der Pornofamilie bereits mit der Schaffung biologischer Familien abmühen und die gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen gegen SexarbeiterInnen zu spüren bekommen, läßt Horn seinen Traum vom echt ambitionierten künstlerischen Porno fallen und steigt auf Echtzeit-Aktion-Porno um. Rollergirl (Heather Graham), ein klassisches gefallenes Mädchen, das im späteren Leben mal ein Riot Grrrl werden wird, soll live und in Farbe von einem x-belibigen Typ von der Straße in einer großen, weißen Limousine realtime gefickt werden. Horner will die Szene als Conférencier begleiten und das Geschehen analog erklären.

Dazu kommt es nicht, denn Rollergirl wehrt sich zum ersten Mal, sie trampelt mit ihren Skates einem Typ im Gesicht herum, der sie als Nutte beschimpft, während er sie wirklich in dieser Limo vergewaltigt. Gleichzeitig wird Dirk von einer Gruppe homophober Typen zusammengeschlagen, von denen sich einer von Dirk für 10 Dollar das "Prachtstück" zeigen lassen wollte. Der Typ hat noch nie was von Dirk Diggler gehört, Dirk ist vollkommen runtergekommen und kriegt seinen Schwanz nicht mehr hart, was für ihn und seinen Glauben an den amerikanischen Traum das Aus bedeutet. "Gott hat allen Menschen ein Talent gegeben", sagt er sich und seinem Geschlecht mantraartig in den Spiegel, jetzt hilft auch zerren und In-die-Hände-Spucken nicht.

Viagra war 1984 noch nicht erfunden, und Aids spielte noch keine Rolle. Dirk und Rollergirl - eine Paar-Konstellation, in der die klassische romantische Teenager-Liebe als Option angelegt ist - sind die Königskinder, die sich nicht kriegen können, weil sie sich im Job vögeln müssen. Weil für Liebe im Leben kein Platz bleibt, kommt der Bruch mit Gewalt. Rollergirl ergreift die Initiative, Dirk erschafft sich wieder neu, nachdem er zusammengeschlagen wurde und aus einem Koks-Drama mit Backpulver-Deals und Russischem Roulette als einziger lebend rauskommt.

Am Ende sind die Abartigen aus der Familie ausgeschieden. Daddy Jack Horner, seine Frau und Lieblingsdarstellerin Amber Waves (Julianne Moore), die Kinder Dirk und Rollergirl rücken wieder zusammen. Die Freunde von früher sind entweder bürgerlich verheiratet, erschossen, überdosiert oder im Gefängnis, und zumindest für Jack ist die Welt wieder in Ordnung.

"Boogie Nights" erzählt von der Unmöglichkeit, zwischen Leben und Job des Sexarbeiterin mit Pornofamilienanschluß zu trennen. So ganz genau hat sich der Pop-Archivar die Achtziger dann doch nicht angesehen, jedenfalls bleiben die Verbindungen zwischen Discomania, Extravaganza, Pornindustrie und der schwulen Lifestylegemeinde im Los Angeles der beginnenden Achtziger unterbelichtet. Allerdings kommt aus dieser Nische das Styling, Dancing, die Musik, der Boogie und der Porn. Die Verbindungen zwischen straighter und schwuler Pornoproduktion waren eng, und das Leben eines männlichen Pornostars, der sich ab und an als Stricher verdingt, kommt wohl kaum ohne Kontakt zu schwulen Freiern aus.

Ähnlich klischeehaft oder vielleicht einfach phallisch-orientiert kommen Frauen im Film vor. Sie sind entweder sexuell frustrierte Mütter, die ihre Söhne begehrlichen Blickes als Versager beschimpfen und sie damit in den Porno oder ins Schwulsein treiben. Frauen sind Menschen, die eigentlich Mütter sein wollen, von der Gesellschaft aber nicht gelassen werden. So wie Amber, Jacks Frau, die die gesamte Porndarsteller-Crew als Mum betreut. Tröstend und fickend.

Paul Thomas Anderson hat einen sehr genauen Blick und stilsichere Patchworktechniken. Er hat eben nicht nur Marky Mark als Rapper gekannt, der irgendwann im Dunstkreis der Boygroup New Kids On The Block auftauchte, seine Hüften nach oben stemmte und den Waschbrettbauch schon vor Peter Andre zum Hardbody-Vorbild erklärte und Mitte der Neunziger für Calvin Klein Unterhosen über den knackigen Arsch zog. Vor allem hat er die britischen Lifestyle-Magazine gelesen.

Zeitgleich zu Marks Erschaffung als Knackarsch hatte Calvin Klein eine Modestrecke, worin - im Stil von Larry Clarks "Kids"-Film - Minderjährige mit verdrogtem Schlafzimmerblick Siebziger-Jahre-Porno-Casting nachspielen. Die Aufnahmen, auf denen unter den Jeansröcken die weiße unschuldige Unterwäsche leuchtete, sollten als Prä-Lolita, Post-Teenage Lust gelesen werden. Auch diese Bilder werden bei Anderson zitiert, und auch die aus der Nasen blutenden Mädchen, die unter riesigen Sonnenbrillen ihre Koks-Pupillen verstecken, sind aus ID und Face bekannt.

Die Kontextualisierung ästhetischer Popwerte der Achtziger und Neunziger gelingt Anderson prima, allerdings fehlt ihm ein politisches Bezugssystem, um die detaillierten Beobachtungen einzubetten. Wohl deshalb beschränkt sich der Film auf die Opposition von Gut und Böse. Die Guten sind solide Pornoproduzenten, die nichts weiter wollen als zusehen, wenn Männer und Frauen "es machen", ansonsten aber am Pool über Kunst plaudern. Die andern sind wirklich pervers und verstehen unter Glück, "Butter im Arsch" zu haben, Kinder zu ficken oder sich einen chinesischen Stricher zu halten. Die bestraft das Leben mit dem Tod.

Das ist die ekelhafte Message von Filmen wie "Boogie Nights", "Larry Flint" oder auch - "Lolita". Die, die Beate Uhse-kompatibel bleiben, dürfen mit ihren privaten Homeporno-Zumutungen serienmäßig ins Fernsehen und können ansonsten weiterhin Tomaten am Balkon züchten. Und die Einübung heterosexueller Normierungsprogramme via Porno, Sexmessen und Talkshows wird als sexuelle Revolution verkauft, die alles andere entweder als pervers ausschließt oder als vulgär vereinnahmt. Sieht ganz so aus, als hätte "Daddy Cool" schon wieder gewonnen.

"Boogie Nights". USA 1997, Regie und Buch: Paul Thomas Anderson. Bereits angelaufen