»Brücken zwischen Ost und West bauen«

Der "Geist von 1989": Die Veranstalter der Berliner Demo für eine andere Politik fordern nationale Verantwortung

Die von Gewerkschaften, Arbeitsloseninitiativen und den Resten der Bewegungslinken geplante Nachahmung französischer Protestverhältnisse in Deutschland hat sich bisher als Flop erwiesen. Das Schmettern des gallischen Hahns blieb einmal mehr unerhört. Seit Marx ist bekannt, daß in Deutschland einer nichts sein darf, wenn er nicht auf alles verzichten will. Das bedeutet nicht, daß Partizipation von unten prinzipiell unerwünscht wäre - sie muß sich eben nur am nationalen Gemeinwohl orientieren. Inzwischen hat die Regierungskoalition das Deutungsmonopol darüber, "was gut ist für Deutschland", verloren. Damit steigen auch die Chancen sozialer Bewegungen, wenigstens eine Statistenrolle bei der Beendigung der Ära Kohl zu übernehmen.

Die nächste Gelegenheit dafür bietet die Großdemonstration unter dem Motto "Aufstehen für eine andere Politik" am 20. Juni in Berlin. Wie eine routinierte Zusammenstellung westdeutscher linker Basics wirken die Beiträge der Demo-Sonderzeitung. Dort ist immerhin auf der ersten Seite von den faschistischen Wahlerfolgen und von notwendigen "gemeinsamen Aktionen gegen Rassismus" die Rede.

Die folgenden Statements repräsentieren die wichtigsten linken Politikfelder der letzen 15 Jahre: Die Deutsche Friedensgesellschaft will "Arbeitsplätze - aber nicht in der Rüstungsindustrie". Studentenfunktionäre fordern mehr Geld für die Universitäten. Peter Gingold vom VVN will am 20. Juni gegen die Gefahr von Rechts demonstrieren und Günter Wallraff für die rechtlich-politische Gleichstellung von MigrantInnen. Auch die Kampagne "Kein Mensch ist illegal", Gewerkschafter und Kirchenleute sind vertreten. Der Slogan "Gemeinsam für soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Gegen Rassismus und Ausgrenzung" erinnert fast an die goldenen achtziger Jahre, als auf den Bündnisdemonstrationen noch alle linken Menschen guten Willens zusammenströmten, um dann ihre jeweiligen Interpretationen der Gemeinplätze des Demo-Aufrufs vorzutragen, ohne sich gegenseitig auf die Füße zu treten.

Diese Illusion wird jedoch von der einzigen Stimme gestört, die sich explizit als Ostvertretung zu erkennen gibt. Wolfgang Richter, Präsident des Kuratoriums ostdeutscher Verbände will "verstärkt ostdeutsche Forderungen" in die Protestbewegung einbringen. Vor allem müsse "die Ungleichbehandlung der Deutschen in Ost und West" aufhören. Die Demonstrationsveranstalter scheinen nicht der Meinung zu sein, daß eine solche Sorge um die Deutschen zweiter Klasse mit antirassistischer Solidarität unvereinbar sei.

Die Klammer für diesen Spagat bildet der gemeinsame Bezug der Aufrufenden aus Ost und West auf die "Erfurter Erklärung" vom Januar 1997. Dort hatten alte Bekannte wie Günter Grass, Dorothee Sölle, Friedrich Schorlemmer und andere ihre "Verantwortung für die soziale Demokratie" bekundet. Gleich im ersten Satz wird die lediglich formale Vereinigung Deutschlands beklagt. Der Kohl-Regierung wird Versagen in eigener Sache, ein "geistig-moralischer Bankrott" vorgeworfen. Die deutsche Einheit werde als Vorwand für Sozialabbau "mißbraucht": "Im Westen meinen viele, sie geben ihr Bestes dem Osten, dort meinen viele, man nimmt ihnen das Letzte."

Ein weiterer nationaler Minuspunkt der Regierung sei der Umgang mit der DDR-Vergangenheit: "Das Gut-Böse-Schema aus der Zeit der Systemkonfrontation kann das Vollenden der Einheit nicht leisten." SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS müßten an einem Strang ziehen, um einen Politikwechsel herbeizuführen. Daß die "Erfahrung von 1968" und der "Geist von 1989" sich hier glücklich vereinen, versteht sich von selbst.

Bei soviel nationaler Verantwortung blieb in Erfurt kein Platz mehr für die Forderung nach einer doppelten Staatsbürgerschaft oder für einen Protest gegen die deutsche Abschiebepolitik. Wie weit die mentale innere Einheit schon fortgeschritten ist, zeigt ein Text des HBV-Vorsitzenden von Thüringen, Bodo Ramelow, auf der DGB-Homepage. Ramelow hebt mit einem Stoßseufzer der Erleichterung an: "Nach 16 Jahren bleierner Last auf diesem Land" träten nun endlich zwei spektakuläre "Meister" als Erlöser auf: Ein Schlagersänger und Gerhard Schröder. Man fragt sich natürlich, welche Spezialverbrechen das SED-Regime ab 1982 den Thüringern als "bleierne Last" auferlegt hat. Gemeint ist aber die Machtübernahme der CDU/FDP-Koalition in Westdeutschland. "Gesamtdeutsch ist unsere Nation größer, unser Volk zahlreicher, aber unser Widerstand gelähmter geworden", wundert sich Ramelow.

Dieser Zusammenhang erscheint ihm nicht logisch, sondern paradox. Und so ist es auch kein Widerspruch, wenn der soziale Konflikt in Frankreich die gebieterische Forderung an die deutschen Linken stellt, zu versöhnen anstatt zu spalten und "gemeinsam zwischen Ost und West Brücken zu bauen und Forderungen aufzustellen, die in Ost und West gleichermaßen verstanden werden".

Man versteht sich unter den Protestierenden in Ost und West aber offensichtlich nur allzugut. Auf die Idee, den Wunsch nach innerer Einheit mit dem nach einer erfolgreichen Fusion von Reps, DVU und NPD zu vergleichen, ist jedenfalls noch niemand gekommen. Wird das nationale Ziel dagegen positiv besetzt, dann kann wohl kaum geleugnet werden, daß der Bundesrepublik angesichts des Versagens der Kohl-Regierung eine Frischzellenkur gut bekommen würde. Die nächsten Monate werden zeigen, ob sich die explizite Verknüpfung von nationaler und sozialer Frage auch für westdeutsche Linkskeynesianer als wegweisendes Modell erweist.

Dann wäre allerdings schwer vorstellbar, von wo noch Widerstand kommen soll, wenn Kanzler Schröder "law and order" als "Labour issue" und Kehrseite nationalkorporatistischer Politik ins Spiel bringt.