Die falschen Fragen

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde bleibt mit seiner Kritik an Schönbohm allein

Berlins Innensenator weiß, was sich gehört. Beispielsweise "Offenheit, Toleranz und kulturelle Vielfalt" in eine Weltstadt. Deshalb muß, wer seine Äußerungen ernst nimmt, ihn mißverstanden haben. Wenn Schönbohm Ghetto sagt, meint er Offenheit. Wenn er sich in bestimmten Teilen Berlins nicht mehr in Deutschland fühlt, dann meint er Toleranz. Wenn er die Streichung von Sozialhilfe bei verpatzter Deutschprüfung verlangt, dann meint er kulturelle Vielfalt.

Und Berlins Innensenator weiß, was sich nicht gehört. Beispielsweise, daß ihm der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Deutschtümelei vorwirft. "Das steht auch einem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde nicht zu. So kann man nicht miteinander umgehen."

Daß Jörg Schönbohm gegen Andreas Nachama das Ressentiment gegen den Juden, der sich ohnehin zuviel rausnimmt, mobilisiert, überrascht nicht. Aber auch der ach so liberale Tagesspiegel tritt seinem Gastautoren Nachama im Leitartikel auf der Seite eins hinterher: "Man kann nicht umhin, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde vorzuhalten, daß er mit seinen maß- und begrifflosen Äußerungen genau das schafft, was er Schönbohm vorwirft - nämlich den rechten Stammtischen ein gutes Gewissen zu geben." Sprich: Die Juden sind an den Vorurteilen gegen sie selbst schuld, wenn sie sich einmischen.

Was war passiert? Bis zu Nachamas Beitrag war die Reaktion auf Schönbohms jüngste Vorschläge zur Lösung der "Ausländerfrage" (Tagesspiegel) in den üblichen Ritualen abgelaufen (vgl. Jungle World, Nr. 24/98). Der Innenpolitische Sprecher der SPD, Hans-Georg Lorenz, hatte vorgelegt und gefordert, ohne "eigenen Integrationsbeitrag" dürften Ausländer keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung mehr bekommen. Einig in der Problembeschreibung, hatte die SPD am Innensenator nur seinen Stil zu kritisieren.

Andreas Nachama führte mit seiner Erwiderung auf Schönbohm im Tagesspiegel eine andere Perspektive ein. Während sich die liberale Öffentlichkeit zusammen mit Schönbohm die Ausländerfrage stellte - schließlich muß man die Sorgen und Ängste der Bürger, der deutschen versteht sich, ernst nehmen -, stellte Nachama die Deutschenfrage, indem er die Grundlagen von Schönbohms Denken beschrieb: "Die anti-multikulturellen Vorstellungen des Innensenators muten da wie ein Rückgriff in die Mottenkiste an, die (...) ein abgeschottetes und auf sich selbst bezogenes Weltbild propagieren, das letztendlich über das Schmoren im eigenen Saft nicht hinauskommen will." Schönbohm verharre "in traurig guter Gesellschaft mit den Vertretern einer Blut- und Boden-Ideologie, die letztlich Ursache aller ethnisch geprägten Konflikte in Europa war".

Die Ausländerbeauftragte Barbara John (CDU) oder die Grünen stritten sich mit dem Innensenator vor allem darum, ob die Integration gelungen sei oder nicht. Der Grüne Fraktionssprecher Wolfgang Wieland führte den Karneval der Kulturen als Beweis für die gelungene Integration an. Und Barbara John verteidigte die Ausländer als fleißige Schüler: "Die meisten Ausländer können gut Deutsch."

Nachama stellt dagegen in seinem keineswegs sonderlich radikalen oder maßlosen Text die naheliegende Frage, "wann denn Integration ˆ la Schönbohm erfolgreich abgeschlossen wäre? Vielleicht, wenn alle den gleichen grauen Drillich tragen, da eine uniformiert antretende Gesellschaft einem ehemaligen General womöglich am besten zusagt."

Der Aufschrei, den Nachama sich gewünscht hatte, ging auch nach seiner Intervention nicht durch die Gesellschaft. Im Gegenteil: Inhaltlich nahm niemand seine Provokation auf. Statt dessen wurde ihm schlechter Stil vorgeworfen. Nachama hatte sich daneben benommen. Und Schönbohm machte klar, wer die "Sorgen und Ängste" derer, die nicht der deutschen Norm entsprechen, ernster nimmt als die der deutschen Bürger, verläßt den Rahmen der demokratischen Diskussionskultur und diffamiert. Schönbohm kann zu Recht darauf verweisen, daß "Grundlage unserer Politik und unseres Gemeinwesens unsere Nation und Kultur" sind. Ihre Perspektive läßt sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht nehmen.

Beispielhaft für die Haltung der liberalen Schönbohmkritiker ist die Erwiderung des evangelischen Landesbischofs Wolfgang Huber auf Nachama. Dessen Vorwurf, auch aus den Kirchen sei kein hörbarer Protest gegen Schönbohm gekommen, möchte Huber nicht auf sich sitzen lassen. Er selbst habe "dessen populistische Rede zur Ausländerpolitik (...) wieder und wieder kritisiert". Und mit der "Woche der ausländischen Mitbürger" werde seit mehr als zwanzig Jahren alljährlich zur Begegnung mit Ausländern eingeladen. "Dadurch wird mehr für die Integration getan als durch noch so scharfe Erklärungen." Nachama habe sich selbst einen Bärendienst erwiesen. Und, ganz in Schönbohms Diktion, fordert Huber, man dürfe "die Integrationskraft einer Gesellschaft nicht leichtfertig überschätzen".

Bei Schönbohm klang das einen Tag zuvor so: "Die Polemik der letzten Tage ist daher ein bewußt inszeniertes Mißverständnis. (...) Hiergegen stelle ich eine verantwortliche Politik, welche die Integrationskraft gerade daraus bezieht, daß sie Unterschiede erträgt, Probleme benennt, nicht tabuisiert, aber dafür offen diskutiert, wie es sich in der Demokratie gehört."