Scheiße

Über Diter Rot, der vor zwölf Tagen gestorben ist.

Es gibt Empfindliche, denen die bürgerliche Sensibilität nicht genügen kann. Der vorläufige Endpunkt der menschlichen Evolution, das Spitzenprodukt der hochindustriellen Gesellschaft - das ist bloß Scheiße für sie. Die Feinheiten der Zivilisation, die Wunderwerke ihrer Technik, die Vollendung ihrer Kommunikation - eine einzige "Kackeiausbrütanstalt". Sie langen in diese Scheiße und schmeißen sie zurück. Wenn sie Glück haben, nimmt man es ihnen nicht übel, weil sie "Künstler" sind.

Diter Rot (auch Dieter Rot, auch Dieter Roth) war ein Künstler von außergewöhnlichen Fähigkeiten. Doch zugleich wurde man bei ihm das Gefühl nicht los, er spiele das bloß, es stecke etwas ganz anderes dahinter, ein Schmerz vielleicht, der in den Schnittmustern der Sprache gar nicht vorgesehen ist, oder sagen wir lieber Etwas-wie-Schmerz. Weil die Empfindung und das Empfindungswort für identisch gehalten werden, mißtraut man der Empfindung, wenn man kein Wort für sie finden kann. "Du, hier hängt ein Pfund Angst an der Wand." Solch einen Satz kann man für eine Blödelei halten, für einen mißlungenen Existentialismus. Oder aber für den Hinweis darauf, daß es keinen Satz gibt, mit dem man der Tatsache Rechnung tragen könnte, daß, sagen wir, ein Pfund Angst an der Wand hängt. Vornehm ist, schreibt Nietzsche, der Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens.

Im Mißlingenden, im Überschüssigen, in dem, was man beim Schreiben oder Zeichnen in den Papierkorb wirft, im Gekritzel auf dem Bierdeckel, im Gedanken, der einen auf dem falschen Fuß erwischt, im Gebrabbel des Rauschs, in der regredierten Sexualität, im Irrtum, im Mißverständnis und im Mißbrauch sah Rot das Material seiner Arbeit. Er unternahm alles, um es in seiner Vorläufigkeit, in seiner Deklassiertheit und Fragwürdigkeit zu erhalten.

Eine Lesung Rots, der ich vor Jahren beiwohnte, begann der Künstler mit einigen Versen. Plötzlich stockte er und murmelte: "Ach, das ist Scheiße." Er blätterte einige Seiten weiter, begann mit einem anderen Gedicht, erneut unterbrach er sich, rief ärgerlich: "Wieder Scheiße!" und suchte ein besseres. Mal las er einen Text zu Ende, um ihn dann mit einer knappen Bemerkung durchzustreichen, mal blätterte er minutenlang unschlüssig in seinen Manuskripten, mal betonte er absichtlich falsch. Nach und nach gingen die Besucher, die eine traditionelle Lesung erwartet hatten. Wer an diesem Stolpern von Scheiße zu Scheiße Gefallen fand, erlebte drei wunderschöne Stunden.

Ich kenne außer Arthur K¿pcke keinen anderen Künstler, der eine derart ernste Problematik, eine derart bittere Grundaussage so übermütig zu verwandeln verstanden hätte. Rot und K¿pcke kannten sich, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre zeigte Rot in K¿pckes Kopenhagener Galerie seine damals noch sehr konstruktiven Arbeiten, z.B. "Bücher, die aus gelochten, schwarzen und weißen Papierbögen bestanden, die verschoben werden konnten, so daß sich hinter den Löchern ständig neue Muster ergaben. Der Betrachter konnte in die Realisation des Werkes selbst eingreifen." (Susanne Rennert)

Rots und K¿pckes akademiefeindliche Haltung, ihre Kunst, die von dem aus der bürgerlichen Kommunikation Ausgeschlossenen lebt, ihre destruktive Kraft, ihre Verspieltheit und natürlich die Idee der Kunst von allen, für alle, über alles brachten sie in die Nähe von Fluxus. Aber beide waren zu eigensinnig, zu radikal, um sich endgültig dieser radikalen und eigensinnigen Künstlervereinigung anschließen zu können. Und doch setzte Rot noch in den achtziger Jahren typische Fluxus-Ideen um. Etwa die (zusammen mit Barbara Wien herausgegebene) Zeitschrift für Alles, die rigoros jegliches wegdruckte, was eingereicht wurde, ohne Redaktion und ohne Korrektur. Die Zeitschrift schwoll zu einem solchen Umfang an, daß sie schließlich nicht mehr finanzierbar war.

Während er also - aus einem tiefen Mißtrauen gegen die mächtigen Formen der Kommunikation - dem Mißlungenen, dem Ausgeschiedenen, dem Fatalen Öffentlichkeit schaffte, ohne indes der Meinung anzuhängen, hier finde sich das "Eigentliche", verwarf er gleichzeitig das Reputierliche, das kulturell Wertvolle. Seine bekannteste Arbeit sind die Literaturwürste. Rot weichte Hegels Gesammelte Werke, einen Grass-Roman und andere Bücher ein, pökelte sie und stopfte sie in Därme. Einige dieser Würste soll er für einen kunstsammelnden Zahnarzt in dessen Badewanne hergestellt haben. Der Arzt richtete dem chronisch abgebrannten Rot dafür die Zähne.

Das Stoffliche, das Leibliche, das Lebende und also Sterbende, das Verwesende und also Stinkende, der organische Abfall beschäftigten seine Phantasie. Er stanzte Zeichen in Wurstscheiben und ließ den Kram dann hinter Glasscheiben verschimmeln. Er stapelte Schokoladetafeln zu immer ranziger werdenden und schließlich in sich zusammensackenden Gebirgen. Aber er war kein schwersinnlicher Künstler, dem es um die Verfeinerung des Sensoriums ging; hinter all dem darf man zu Recht einen bösen Gedanken vermuten. Nach Duchamp gibt es kein Zurück zur Augen-, Ohren- und Nasenkunst.

Sein Freund Oswald Wiener erkannte in Rots Schaffen eine "besondere interferenz von naivität und reflektiertheit". Das macht, daß weit fortgeschrittenes Denken, daß dieser "jugendstil des erkennens" (Wiener) sich nachgerade plumpen, ja vulgären Formen anverwandelt, die doch, von ihm manipuliert, ihre Roheit verlieren. Der volkstümliche Spruch klingt noch nach, man glaubt noch die eingerahmte Eckkneipenweisheit zu erkennen, aber es klappert höchst seltsam: "bleibe dabei: / bei eins / und zwei! / - vielleicht auch drei. / an vier / reite vorbei! / fuenf lasse! / und sechs auch. / sieben ist zu gross! / acht ist das zu grosse leben! / - leb da vorbei, / und auch alles drueber / ist vom uebel!" (aus: "SCHEISSE", Providence 1966).

Wiener schrieb auch: "die wurzel seiner empfindlichkeit ist angst." Rot hat in seinem erstaunlichen "Lebenslauf mit 5) Jahren", der 1980 in der von Helmut Heißenbüttel und Bernd Jentzsch herausgegebenen Zeitschrift Hermannstraße 14 erschien, einige Fingerzeige auf die Vorgeschichte dieser Angst gegeben. Über seine Kindheit in Nazideutschland bemerkt er: "Zitternd und verzagend lebte er an jenem Orte dahin, scheueriges Menschenfresser pack hören oder anhoeren müssend, ein sich selben immer wieder neuscheissender Selbsthaufen, in die Angsthose pissender Verdroschener und zur droschener Zittervogel, in die Angstlaken wixwnder Spritzkrümel." Der schreckliche Ort, die "graue Stadt Hannover", in der alles seinen Lauf nahm, jene Stadt, die Theodor Lessing Spießruten laufen ließ und Gerhard Schröder hervorgebracht hat, demütigte den Künstler noch kurz vor seinem Tod mit der Verleihung des Kurt-Schwitters-Preises.

Und doch erschöpft sich das Grauen der Existenz nicht im bloß Biographischem, nicht z.B. in dem Verhängnis, unter Mördern groß geworden zu sein. Rot, der lange Zeit in der Schweiz und auf Island lebte, kann denen, die fliehen wollen, kaum Hoffnung machen. Dem am tiefsten sitzenden Problem werden sie nicht entkommen: "Dort in der Fremde siehts aus wie zu Hause, dort kann man hinscheissen, drum gehn so manche oder drum geht somancher oder so kommts, dass mancher eine oder mancheine in die Fremde zieht, dort ists Sprachklosett noch nicht vollgeschissen. Da täuscht sich der Fremde aber, weil er fremd ist täuscht er sich. Es ist schon alles vollgeschissen, je mehr er in der Sprache der Fremden zu scheissen lernt, desto voller sieht er die Gegend voll gehustet mit Scheisse bzw. Kacke, dem als Sprachsalat getarnten Moralgebell harmloserweise genannten Mordgebell, der Mutterzunge entfallen."

Die Attacke gegen die Sprache, gegen die abriegelnde, normierende und reduzierende Kommunikation ist seit wenigstens 100 Jahren der Impetus der Rebellen der Kunst und eines jeden, der sein Denken nicht kampflos preisgeben will. Über Diter Rot, der am 5. Juni in Basel gestorben ist, schrieb vor einigen Jahren Tomas Schmit: "ich halte ihn übrigens für das, was andere in beuys, oder meinetwegen rauschenberg, sahen und sehen: den chef, den king."
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