Läuft er, oder springt er?

Im August 1961 setzte Conrad Schumann zum Sprung in die Freiheit an.

1940 veröffentlichte der Argentinier Adolfo Bioy Casares den Roman "La invenci-n de Morel", eine kulturpessimistische Adaption von H.G. Wells' populärer Erzählung "Die Insel des Doktor Moreau". Darin flieht ein politisch verfolgter Venezolaner auf eine karibische Insel und stellt bald fest, daß er dort nicht allein ist. Das Eiland wird bevölkert von einer illustren Gruppe reicher und schöner Menschen, die den Neuankömmling nicht nur nicht zur Kenntnis nehmen, sondern darüberhinaus tagein, tagaus - scheinbar völlig selbstbezogen - die immergleichen Bewegungen ausführen. Das Mysterium erhellt sich durch die Erkenntnis des Eindringlings, daß es sich bei der autistisch anmutenden Gesellschaft um bereits vor Jahren Gestorbene handelt, die durch die Erfindung eines mad scientist ihr zeitlich begrenztes Dasein für das ewige Weiterleben ihrer maschinell gefertigten Kopien eintauschten.

Bioy Casares' Roman wurde in Europa nur gelegentlich im Gefolge intellektueller Moden rezipiert. Als die erste Welle der Postmoderne die deutsche Intelligenz erreicht hatte und die Reproduzierbarkeit des basalen Kunstwerkes bürgerlicher Subjektivität, der unverwechselbaren Persönlichkeiten, ihre Affirmation durch das Abfeiern der Baudrillardschen Simulations-Theorien erfuhr, erschien 1984 eine wohlfeile Taschenbuchausgabe der deutschen Übersetzung von "La invenci-n de Morel". Das war nicht nur aus Marktgesichtspunkten konsequent: Auch der Casaressche Held entscheidet sich, seiner Entscheidungsfähigkeit durch die selbstvollzogene Anverwandlung an die Ewigkeit des Immergleichen zu entraten. Ein physischer, aber vor allem intellektueller Selbstmord. Diese Übereinstimmung von literarischer Fiktion und realer Attitüde der Leserschaft ließ es gerechtfertigt erscheinen, das Buch auf unbestimmte Zeit im Regal verschwinden zu lassen. Bis zu dem Tag, als Conny Schumann starb.

Auch am Morgen des 20. Juli 1998 schien die Sonne auf nichts eigentlich Neues. Bevor ihre in diesem Sommer ohnehin nicht sehr kraftvollen Strahlen das oberbayerische Kipfenberg (Landkreis Eichstätt) erreichten, hatten sie bereits den deutschen Osten überquert und Scharen von jungen und alten Männern und Frauen aus Plauen/Gera/Riesa den Weg in die alte Reichshauptstadt heimgeleuchtet. Früh aufgestanden "für eine andere Politik" waren sie am Samstag, um für "Arbeit und Menschenwürde" zu demonstrieren. Der Mann, der leblos im Vorgarten seines Kipfenberger Einfamilienhauses hing, hatte mit solcherart historischen Ambitionen nichts mehr zu schaffen. Conrad Schumann (56), verheiratet, ein Sohn, zwei Enkel, Maschinenführer bei Audi in Ingolstadt, hatte sich erhängt.

"Vermutlich war ein Streit der Auslöser", mutmaßte einen Tag darauf das Hamburger Abendblatt. "Als Motiv geben die Ermittler familiäre Gründe an", war sich die Süddeutsche Zeitung einen Tag später schon sicherer. Als man den Toten vom Baum schnitt, muß es dumpf-metallisch gescheppert haben, denn zu Boden fiel der leibhaftige "preußische Ikarus", jene mythische Gestalt, die Wolf Bierman vor 22 Jahren irrtümlich in einer Bronzeplatte einer Ostberliner Brücke gefangen wähnte.

Der preußische Ikarus trägt Stahlhelm, Uniform, Militärstiefel und - eine automatische Schnellfeuerwaffe. Die klebt an seiner rechten Schulter, der rechte Arm drückt den Trageriemen nach außen, so daß er oberhalb und unterhalb dieser Mittelachse ein fast gleichschenkeliges Dreieck bildet: die Spannfläche eines imaginären Flügels. Der linke Arm schwebt frei, ohne Umrahmung, gleichsam als Steuer; Daumen und Zeigefinger sind nach außen gestreckt, als sollten sie sogleich die Belehrung der Skeptiker des einflügligen Flugversuchs einleiten. Denn der preußische Ikarus fliegt nicht - das hat er gar nicht nötig. Er läuft und springt nur einmal: Er läuft da hin, wo die Jungs mit den Kameras stehen, an die Grenze des französischen Sektors - Berlin-Wedding, 15. August 1961. Er springt über einen Stacheldrahtstreifen, den er vorsorglich selbst plattgedrückt hat, er springt von der Sowjetzone ins Reich von Freiheit und democracy und wird so unsterblich.

Als wären die Kameras der Fotografen an jenem 15. August mit der Energie von Morels Erfindung geladen, läuft und springt Conrad Schumann seither unentwegt tagein, tagaus. Durch den Flug des preußischen Ikarus wurde er zunächst der "erste geflüchtete Volksarmist" (Arbeitsgemeinschaft 13. August). Als sich Schumann in Kipfenberg das Leben nahm, war aus dem 61er-Grenzgänger längst "der bekannteste Volksarmist der Welt" (Welt am Sonntag) geworden. In der Tat, wohl überall in der Welt, wo publizistisch gegen den Kommunismus zu Felde gezogen wird, läuft und springt auch Conny Schumann wieder und wieder in die Freiheit: auf Bucheinbänden, Postern und Abreißkalendern, Ansteckern und Aschenbechern, umrahmt vom lateinischen, arabischen, japanischen und singhalesischen Schriftzeichen. Conny Schumanns Freiheitssprung ist neben dem Brandenburger Tor Deutschlands bedeutendster Beitrag zur Ikonographie der freien Welt.

Gerade dort, wo der Kampf gegen den Kommunismus um so erbitterter geführt wird, weil die letzte Infamie des Weltfeindes darin bestand, die demokratischen Erlöser mutterseelenallein auf dem Schlachtfeld eines eingebildeten Weltbürgerkriegs zurückzulassen, wird Schumann gebraucht. Auf dem Einband von "Das war die DDR. Das Buch zur ARD-Fernsehserie" springt Schumann aus der oberen Bildhälfte in die untere, wo sich eine Gruppe Demonstranten mit einem Transparent - "Es lebe die Deutsche Demokratische Republik" - befindet. Weil der üblicherweise abgebildete Stacheldraht in der oberen Bildhälfte fehlt, gewinnt man den Eindruck, Schumann trampele auf den Demonstranten herum, wie jemand, der ein schwelendes Feuer austritt.

Manchmal wirken Ikonen auf ihre Betrachter so rätselhaft wie Hieroglyphen. Das gilt offenbar auch für die im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit der auratischen Entrückung vollständig verlustig gegangenen Abziehbilder moderner Helden. Dem Betrachter geht es dann oft so wie dem Flüchtling in "La invenci-n de Morel", der inmitten des gespenstischen Prunks der leblos-lebendigen Inselbewohner sich abquält, dem offenkundig Sinnlosen einen verborgenen Sinn zu entreißen, um schließlich festzustellen, daß er dazu verdammt ist, stets eine Illusion durch eine neue zu ersetzen. Das Starren auf Conrad Schumanns Freiheitssprung führt zu ähnlichen Ergebnissen. Das Augenmerk des Betrachters konzentriert sich hier verständlicherweise alsbald auf das auffälligste Requisit - des Volksarmisten Waffe.

Guido Knopp und Ekkehard Kuhn schreiben in ihrem 1990 erschienenen Buch "Die deutsche Einheit", "Conrad Schumann, der am 15. August mit dem Sprung über den Stacheldraht in ein West-Berliner Polizeiauto und damit in die Freiheit sprang, bejubelt von zahlreichen Zuschauern auf der westlichen Seite. Zurück blieb nur sein Maschinengewehr". Nun mag in dem Land, wo ein Polizeiauto als Symbol der Freiheit gilt, die Aufwertung eines ostzonalen Grenzpostenkarabiners zum "Maschinengewehr" nicht nur als Ausrutscher entschuldigt, sondern sogar als patriotische Wachsamkeit gelobt werden, doch hinsichtlich des Verbleibs der Schumannschen Waffe widersprechen andere Autoren entschieden.

Zum Beispiel der stern-Reporter Jürgen Petschull in seiner ebenfalls 1990 erschienenen Historiographie "Die Mauer": "Nach seinem Aufsprung auf der Westseite des Stacheldrahtes wirft Conrad Schumann seine russische Maschinenpistole ab. Die Waffe schrammt funkenschlagend über den Boden." Geben wir zu, in dieser die Affinität zum deutschen Expressionismus nicht verleugnenden Diktion würde uns auch eine Verfilmung des Stoffes gefallen. Doch die acht Jahre später in der Welt am Sonntag erscheinende Meldung von Schumanns Tod ernüchtert uns wieder. Auf dem nebenstehenden Foto, behauptet das Blatt, werfe Schumann "gerade seinen Karabiner weg".

Ein Abgrund tut sich auf - nicht mehr die Frage, ob Maschinengewehr oder russische Maschinenpistole oder Karabiner, ist bedeutsam, auch nicht das Forschen, wo die Knarre denn geblieben ist, sondern: Gab es mehr als einen Schumann? War der "bekannteste Volksarmist der Welt" bereits zum Zeitpunkt seiner Initiation in die Welt der Bildmythen schon kein Original mehr, existierte bereits damals eine Anzahl springlebendiger Kopien?

Der in der WamS abgebildete Schumann ist ein anderer als der am nächsten Tag im Hamburger Abendblatt und in der Süddeutschen Zeitung gezeigte. Er ist allerdings identisch mit dem Schumann der Frankfurter Rundschau und ähnelt ein wenig dem des Tagesspiegel. Der Bildvergleich ergibt: Der eine Schumann (nennen wir ihn den Prototyp) springt über einen heruntergedrückten Stacheldrahtstreifen geradewegs - je nach Gusto des Betrachters - ins Objektiv der Kamera, das Polizeiauto, die Freiheit. Der andere (den wir vorerst als Variante bezeichnen) springt nicht, er strebt laufend in den unteren rechten Bildwinkel, der als Dreieck durch einen - je nach Belichtungsstärke der Fotoabzüge - mal stark ausgeprägten, mal zart angedeuteten Stacheldraht vom übrigen Bild abgetrennt erscheint. Auffallend auch die unterschiedliche Kulisse: Während im Hintergrund des Prototyps eine Gruppe von müßig herumstehenden Zivilisten zu sehen ist, die, Hände in Hosen- oder Manteltaschen vergraben, mit Uniformierten plaudern, läuft die Variante eine nahezu menschenleere Straße entlang, Sinnbild des jede Kommunikation erstickenden Totalitarismus.

Der Prototyp wird von der Agentur ap vertrieben, die Variante von dpa. Auch in dem erwähnten Werk Jürgen Petschulls ist der Prototyp abgebildet. Petschull behauptet, ein gewisser Klaus Lehnartz habe das berühmte Foto geschossen: "... springt er über den Stacheldraht. In diesem Sekundenbruchteil drückt der Fotograf Klaus Lehnartz auf den Auslöser seiner Kamera." Im Hamburger Abendblatt wurde dagegen jüngst ein Peter Leibing als Urheber präsentiert. Neben der großformatigen Abbildung des Prototypen heißt es, Leibing habe "ein freundschaftliches Verhältnis mit Schumann" verbunden. Und: "Leibing schoß am 15. August 1961 das weltberühmte Bild." Leibing behauptet auch, im Besitz des Originalabzugs zu sein: "Täglich sehe ich ihn bei uns im Abendblatt-Redaktionsflur mit seinem Sprung in die Freiheit."

Wenn (mindestens) zwei Personen die Urheberschaft des Prototypen beanspruchen, stellt sich nicht nur die Frage nach den möglicherweise noch undurchsichtigeren Entstehungsbedingungen der Variante, es drängt sich auch der Verdacht auf, daß die Entstehung freiheitlich-demokratischer Mythen ähnlich subjektlosen Mechanismen gehorcht wie das sich in rastloser Wiederholung erschöpfende Dasein ihrer Endprodukte. Wie Conny Schumann - als Prototyp und als Variante - bis ans Ende der FDGO zum nie ermüdenden Laufen und Springen verurteilt ist, so wird er auch immer wieder neu erfunden werden. Dies nicht bedacht zu haben, war der zweite große Fehler des Mannes. Daß er sich nun aus ebenso freien Stücken von der DDR trennte und nach seinem Ende noch einmal als wahrhaft souveräner Bewohner der freien Welt dasteht, zeigt daß der Tod in der Demokratie mehr als das Leben kosten kann. Auch der Anspruch auf ewige Ruhe ist futsch.

Den ersten großen Fehler beging Schumann schon im Augenblick seiner spektakulären Flucht. Hatte er sich damals ausgerechnet, die entstehende Mauer schütze ihn hinfort vor den Anmaßungen seiner sächsischen Familie, hielt diese Kalkulation nur, solange die Mauer stand. "Familiäre Probleme" - ob sächsische oder bayerisch ist allerdings nicht bekannt - brachten ihn jetzt um.