Tod in Venedig

Gewerkschaften und Umweltschützer aus dem norditalienischen Veneto ziehen unterschiedliche Konsequenzen aus Vergiftungen durch die regionale Chemieindustrie

Es begann damit, daß der Bezirksstaatsanwalt Luca Ramacci vor zwei Wochen einen Kanal blockieren ließ, der giftige Abwässer aller in Porto Marghera tätigen Erdölraffinerien und Chemiefabriken in die Lagune von Venedig abführt. Und Reaktionen folgten prompt: Umweltaktivisten blockierten die Eingänge einer Chemiefirma, Tausende von Chemiearbeitern, die ihre Arbeitsplätze gefährdet sehen, besetzten im Gegenzug eine Autobahn und den Bahnhof von Mestre, einem auf dem Festland liegenden Stadtteil von Venedig. Alles zusammen hob den langwierigen Streit um Gefährdungen der Petrochemie für Mensch und Umwelt kurzfristig sogar in den Rang einer internationalen Nachricht.

Vordergründig scheint es sich um einen klassischen Konflikt zwischen Industriefunktionären und Gewerkschaften auf der einen und den die Lagunenwelt und ihre Bewohner vertretenden Umweltschützern auf der anderen Seite zu handeln. Eine Auseinandersetzung, bei der das instrumentalisierte Arbeitsplatzargument auf die nicht nur instrumentelle Vernunft von Bewahrern des Weltkulturerbes Lagune trifft. Ein Konflikt, der die verschiedenen Sozialgefüge und Interessenlagen auf dem Festland und in der Lagunenstadt exemplarisch gegenüberstellt: da die Vergangenheit (Industrialismus, Migration und Arbeiterkultur), dort die Zukunft (Tourismus, vorläufig gestoppter Verfall, Einsatz "weicher" Technologien).

Doch diese Polarisierung stimmt nur zum Teil. Speziell in Mestre hat sich die Ökologiebewegung auch innerhalb der Fabriken gebildet. Die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen 31 leitende Enichem- (vormals Enimont-, dann Montedison-) Manager, die für den Tod von 150 und die Erkrankung von über 400 Arbeitern verantwortlich gemacht werden, geht sogar auf eine Arbeiteruntersuchung zurück. Gabriele Bortolozzo, ein jüngst bei einem Verkehrsunfall verstorbener Chemiearbeiter, der in Porto Marghera in der alternativen Gewerkschaft Confederazione Unitaria di Base und in der operaistischen "Bewegung für die Gesundheit am Arbeitsplatz" aktiv war, hatte bereits 1994 in der Zeitschrift Medicina Democratica Ergebnisse einer von ihm geführten Untersuchung über Todesfälle und Erkrankungen bei Montedison/Enichem veröffentlicht. Aus Befragungen von Arbeitern, deren Angehörigen und Arbeitskollegen geht hervor, daß zwischen 1970 und 1980 bei der Herstellung und Verpackung der hochgiftigen Kunststoffe CVM und PVC sowie bei der Wartung und Säuberung der Anlagen 149 Arbeiter an Krebserkrankungen der Leber, der Lungen oder des Kehlkopfes gestorben sind; weitere 377 haben sich im Umgang mit PVC, mit CVM und mit anderen chlororganischen Verbindungen unterschiedlich schwere Erkrankungen zugezogen.

Zudem verfügt Mestre mit dem Sohn eines an Krebs gestorbenen Chemiearbeiters, dem Umweltschützer Gianfranco Bettin, der als Vizebürgermeister Venedigs für Mestre zuständig ist, über ein Oberhaupt, das die sozialen Widersprüche in einer Person verkörpert. Anders als die Bewegung der Grünen in Italien mußte sich die radikale Umweltbewegung der Region schon immer mit den Erfahrungen und der Kultur der Arbeiterbewegung auseinandersetzen. Sie hat eine geschmeidige Haltung angenommen, die der aktuellen Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Interessen gerecht wird: eine auf Gedeih und Verderb mit der Industrie verschwisterten Gewerkschaft einerseits und ein nicht auf Ausbeutung und Verheerung gegründetes Leben andererseits. Immerhin hat die Industrie von Porto Marghera in den letzten dreißig Jahren 1,6 Millionen Tonnen Giftstoffe in die Luft geblasen und weitere 500 000 Tonnen in die Lagune eingeleitet, darunter Dioxine, Quecksilber, Blei und Zink.

Venedigs Bürgermeister Massimo Cacciari versucht zu vermitteln. Er sieht die Lösung in einer Zusammenarbeit von Unternehmern, Gewerkschaften und Stadtverwaltung. Diese sollen einen Plan ausarbeiten, mit dem langfristig das Industriegelände umgewandelt und gleichzeitig die Beschäftigung garantiert wird. Damit hat er neben der Wahrung des sozialen Friedens auch die Sicherung der Geschäfte der von ihm propagierten Region Veneto-Nord-ost im Auge. Nun hat aber die Aktion der Staatsanwaltschaft die Option einer Schließung Margheras aufgeworfen - in Übereinstimmung mit regionalen Centri Sociali und Umweltschützern.

Dies könnte in der augenblicklichen Situation kontraproduktiv wirken. Abgesehen davon, daß Vertrauen in die Justiz bei der Lösung sozialer und ökologischer Fragen bei den Betroffenen rasch in Passivität umschlagen kann, scheint die als Reaktion von der Chemie-Industrie angedrohte Schließung aller Anlagen in Norditalien ihre erpresserische Wirkung nicht zu verfehlen: Umweltminister Edo Ronchi hat zwar verboten, weiterhin krebserregende Dioxine und Pestizide in die Lagune einzuleiten, den Chemie-Produzenten wird aber ein halbes Jahr eingeräumt, um ihre Anlagen den neuen Bestimmungen anzupassen.

Dagegen hat es die Chemie-Industrie im noch andauernden Prozeß um die Todesfälle von Porto Marghera eilig, mit den Angehörigen der Opfer einen Vergleich abzuschließen: Insgesamt will man rund 65 Millionen Mark zahlen. Die meisten Angehörigen erklären sich damit einverstanden; wenigstens brauchen sie nun nicht mehr, wie die Opfer der früher bekannt gewordenen Chemieunfälle von Vajont und Seveso, eine Ewigkeit - und meist vergeblich - auf Entschädigung zu warten. Daß Gabriele Bortolozzo mehr erreichen wollte, interessiert sie nur wenig.