Am Beispiel der Deutschen

Zur Erstveröffentlichung von Manuskripten aus dem Nachlaß Herbert Marcuses anläßlich seines 100. Geburtstages

Es ist noch gar nicht so lange her und damit schon kaum mehr erinnert, daß Herbert Marcuse der prominenteste Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule war, wie jener Intellektuellenzirkel, der vieles wollte, aber garantiert keine Schule aufmachen, nicht nur im bürgerlichen Feuilleton hartnäckig genannt wird.

Einer Gesellschaft, die sich selbst als für die Ewigkeit bestimmt hält; der es daher schlicht als unverständlich erscheinen muß, wenn Leute massenhaft auf die Idee kommen, daß es ein erstrebenswerteres Leben geben könnte als das aus Ehe, Lohnarbeit und Bausparvertrag gewirkte Einerlei und deshalb auf die Konstruktion von Verschwörungstheorien angewiesen ist - dieser Gesellschaft galt Marcuse als "Drahtzieher" und heimlicher "Kopf" der Protestbewegung der späten sechziger Jahre, später auch als Vordenker des "Terrorismus" - eine vordem beliebte These besonders dreister Reaktionäre, kürzlich von der in taz, Merkur und Woche publizierenden Journalistin Mariam Lau wieder ausgepackt.

Nun stimmt an all diesem Unsinn soviel, daß es in den sechziger Jahren tatsächlich eine jähe Zündung gegeben hat - zwischen dem Bedürfnis, der eigenen Ohnmacht gänzlich innezuwerden, um sie abstreifen zu können, und einem Denken, das von sich aus nie auf Wirkung geschielt hat, auch wenn es sich diese stets erhoffte.

Marcuses Studien mit dem Titel "Der eindimensionale Mensch" verliehen dem studentischen Protest Vernunft und Sprache bzw. weniger freundlich formuliert: lieferten ihm die Stichworte ("Große Weigerung") und avancierten zu einem der meistgelesenen Bücher jener Zeit. Andere Zeitgenossen versuchten sich Marcuses Beliebtheit bei den protestierenden Studenten und in der Linken allgemein damit zu erklären, daß dieser sich - im Unterschied etwa zu Horkheimer oder Adorno - nicht nur mit der Kritik des Bestehenden, sondern auch mit Strategien zu dessen Überwindung beschäftigt habe, also damit, welche Potentiale dieses Bestehende unterminieren und sprengen könnten.

Ein anderes, neuerdings kursierendes Gerücht besagt, daß Marcuses Attraktivität bei den deutschen Studenten auch damit zu tun gehabt habe, daß in seinen Schriften (im Gegensatz etwa zu denen von Horkheimer und Adorno) die Analyse des Nationalsozialismus und seines Nachwirkens nur eine marginale Rolle gespielt habe (so Jürgen Elsässer in Jungle World, Nr. 17 / 98).

Das jüngst erschienene Buch "Feindanalysen. Über die Deutschen" ist wie kein anderes dazu geeignet, diese These als den Unsinn dastehen zu lassen, der sie ist. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung von acht Manuskripten aus dem Nachlaß Herbert Marcuses, die in den vierziger Jahren im Zusammenhang seiner Arbeit beim Office War of Informations (OWI) bzw. Office of Strategic Services (OSS), beides Unterabteilungen des US-amerikanischen Geheimdienstes, entstanden sind.

Daß diese Schriften erst jetzt erschienen sind, muß man in verschiedenerlei Hinsicht bedauern. Sie widerlegen z. B. den bei Marcuse-Fans wie bei Marcuse-Kritikern gleichermaßen weitverbreiteten Irrtum, wonach seine Analysen zur "eindimensionalen Gesellschaft" einen modernen, "soften", permissiven, demokratischen Herrschaftstypus im Gegensatz zum Nationalsozialismus beschrieben. Marcuses Schriften aus den vierziger Jahren machen dagegen deutlich, daß er sämtliche entscheidenden Kategorien, die er zur Kennzeichnung jener "komfortablen, reibungslosen, vernünftigen demokratischen Unfreiheit" ("Der eindimensionale Mensch") in den kapitalistischen Staaten der Nachkriegszeit heranzieht - repressive Toleranz, repressive Entsublimierung, "technologische Rationalität" des Sachzwangs als Legitimationsmittel - am Beispiel des deutschen Nationalsozialismus gewonnen hat.

Mit Souveränität umschifft Marcuse dabei die leidigen und langweiligen Aporien der "Sonderweg"-Debatte. Die Alternative Deutschland-Kritik oder Kapitalismus-Kritik ist für Marcuse keine. Das nationalsozialistische Deutschland wird bei ihm als eine Gesellschaft vorgestellt, die das Ende der liberalkapitalistischen Ära indiziert und bei der Liquidierung der bürgerlichen Vermittlungen besonders konsequent vorgeht. Das qualitativ Neue des Nationalsozialismus wird in verschiedenen Studien eingekreist, die sich unter anderem mit der Ideologie sowie der sozialen und politischen Organisation des Nationalsozialismus auseinandersetzen.

Der erste, relativ umfangreiche und thematisch zentrale Text beschäftigt sich mit der "neuen deutschen Mentalität". Der Nationalsozialismus kreiert danach einen Typus von Ideologie, der mit dem Begriff des notwendig falschen, d.h. in seiner Verkehrung immer noch Wahrheit transportierenden Bewußtseins nicht mehr viel zu schaffen hat. An seine Stelle tritt die unmittelbare Einheit von Pragmatismus und Mythologie, d.h. die Mystifizierung des Alltagslebens in heroischen und naturalistischen Termini und andererseits die Indienstnahme von Mythologemen für die höchstmögliche Effizienz von Produktion und Krieg.

Von einem Bewußtsein oder einem Glauben kann man dabei recht eigentlich nicht mehr sprechen - eher handelt es sich dabei um eine "Haltung", deren Kennzeichen eine desillusionierte "zynische Sachlichkeit" ist: "(Der Deutsche) hat gelernt, mißtrauisch und gewitzt zu sein, jeden Schritt sofort und blitzschnell abzuwägen, seine Gedanken und Ziele zu verbergen, seine Handlungen und Reaktionen zu automatisieren und dem Rhythmus der alles durchdringenden Reglementierung anzupassen."

Zwar geht Marcuse nicht auf den Massenmord an den Juden ein, aber in der Analyse der "deutschen Mentalität" hat er jene Züge festgehalten, die Auschwitz möglich machten. Nicht weil sie die Juden fanatisch gehaßt hätten, sondern weil sie "wußten" - und in diesem "Wissen" liegt die von Marcuse eindrucksvoll beschriebene "Rationalisierung des Irrationalen", das wahnhafte Delirieren bürgerlicher Rationalität beschlossen -, daß die Juden eliminiert gehören, wurden die Deutschen zu Exekutoren des Massenmords; nicht die völkische Ideologie, die jeder als Lüge halb durchschaute, war der Kitt zwischen Führung und Volk, sondern das vom Individuum übriggebliebene "bestialische Eigeninteresse" (Marcuse), die Zufriedenheit darüber, Arbeit zu haben und die Spekulation, beim Raubkrieg irgendwie seinen Schnitt zu machen: "In Nazideutschland herrscht Vollbeschäftigung und die Massen leiden noch keinen Hunger. Natürlich werden die zunehmenden kriegsbedingten Entbehrungen und die schrecklichen Verluste das Naziregime immer unpopulärer machen - doch nicht zugunsten des Status quo ante.

Auch hier ist die Bewertung ganz und gar pragmatisch: Der Krieg ist der deutschen Bevölkerung als geschäftliches Unternehmen geschildert worden, als hohe und mit furchtbaren Risiken behaftete Investition, zu der es indes keine Alternative gibt und deren Anfangserfolge vielversprechend sind. Mittlerweile sind ganze Nationen der Ausbeutung durch die Nazis unterworfen worden, und auch der Mann auf der Straße profitiert von der Beute."

Daß die Arbeiterbewegung dieser Haltung vorgearbeitet hat, daran läßt Marcuse keinen Zweifel: "Zudem hatten die Führer der Arbeiterbürokratie den Desillusionierungsprozeß schon lange vor der Machtübernahme durch die Nazis eingeleitet. So war der Grund und Boden für ihre Eroberung durch den Nationalsozialismus bereitet: Die Aussicht auf Vollbeschäftigung und wirksame Kontrolle der Wirtschaftsprozesse wog schwerer als die Überreste des sozialistischen Glaubens." Wo die atomisierten Massen die Herrschaft zu ihrer eigenen Sache machen, werden alle Versuche, weiter mit dem Gegensatz von unterdrückender und unterdrückter Klasse oder Führung und Volk zu operieren, zu Makulatur.

In trockenen Worten wußte Marcuse zu diagnostizieren, was linke Volks- und Massenfreunde bis heute nicht begriffen haben und wohl auch nie begreifen werden: "Die Rundfunksendungen rufen die deutschen Arbeiter dazu auf, den Alliierten beim Sturz des Naziregimes zu helfen und Deutschland vom 'Tyrannen' zu befreien. Die deutschen Arbeiter, so heißt es, hätten eine 'Mission'. Aber genau das erzählt ihnen Hitler schon seit Jahren! (...) Darüber hinaus sollten wir vermeiden von dem 'Volk, das unter dem eisernen Joch der Hitlerschen Diktatur seufzt', zu reden und auch die 'Mächte der Unwissenheit, der Sklaverei und des Krieges', die wir 'ein für allemal zerstören wollen', nicht mehr erwähnen. Das alles gemahnt an die Festtagsreden des alten Parteibonzen; ein solches Vokabular kann nur Lachen oder Erschrecken hervorrufen. (...) Wir können nicht von vornherein unter der Voraussetzung arbeiten, daß das Hitler-Regime und die Gestapo für den durchschnittlichen arischen Bürger ebenso schrecklich sind wie für uns und den aktiven Widerstand in Deutschland. Für viele deutsche Bürger ist die Gestapo kaum wirklicher oder schrecklicher als das FBI für den amerikanischen Durchschnittsbürger. Sie wissen, daß das Hitlerregime eine Diktatur ist, aber sie verbinden damit nicht mehr Schrekken als mit der Republik, die ihnen freie Wahlen und Organisationsfreiheit, aber auch Arbeitslosigkeit und Inflation bescherte."

Vollbeschäftigung und Geldwertstabilität hat die postfaschistische Bundesrepublik den Deutschen lange Zeit beschert und auch jetzt, wo erstere nicht in Sicht ist und die Stabilität durch den Euro gefährdet erscheint, werden sie als eigentlicher Staatsauftrag, dem das Regierungspersonal Genüge zu tun habe, geltend gemacht - das ist der eine Aspekt des Weiterlebens des Faschismus. Der andere betrifft die Legitimation des späten Kapitalismus selbst.

Der faschistische Führer präsentierte sich als Sendbote der Vorsehung und die Volksgemeinschaft, die er zu schaffen versprach, als Restitution von Natur, als Bluts- und Schicksalsgemeinschaft. Der mythologische Aufputz war die Deckadresse für die totale Verfügbarmachung des gesellschaftlichen Humankapitals im Dienst der Expansion des gesellschaftlichen Apparats.

Die postfaschistische Rede von den "Sachzwängen", die der eigentliche Souverän seien, ist die technokratisierte Variante der völkischen Vorsehung, die sich bis heute in den Formeln vom neuen internationalen "Auftrag" der Deutschen und der "Globalisierung", angesichts deren man Opfer bringen müsse, fortzeugt. Marcuses Ausführungen zur nationalsozialistischen Form der "technologischen Rationalität" sind also zugleich eine Urgeschichte der postfaschistischen Gesellschaft, die das Erbe ihrer Vorgängerin entschlossen angetreten hat.

Marcuse war sich dessen bewußt: Die "neue deutsche Mentalität", so befürchtete er zu Recht, "entspricht nämlich einer gesellschaftlichen Organisationsform, die mit dem Nazisystem nicht identisch ist, auch wenn dieses seine aggressivste Ausdrucksform ist".

Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen. Mit einer Einleitung von Detlev Claussen. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1998, 150 S., DM 24