Der falsche Täter

Lübecker Brandanschlag: Während der Bundesgerichtshof über die Rechtmäßigkeit des Urteils gegen Safwan Eid entscheidet, bezichtigt sich der Grevesmühlener Maik W. einmal mehr der Tat.

Maik W. war stinksauer. "Wenn man mir nicht glaubt, kann ich auch nichts dazu. Und jetzt sage ich gar nichts mehr!"

Ausführlich hatte er den aus Lübeck angereisten Beamten den Verlauf jener Nacht auf den 18. Januar beschrieben: Wie sie damals mit dem Auto seines Freundes René B. von Grevesmühlen in die Hansestadt gefahren seien - René B., Dirk T., Heiko P. und er. Daß zwei von ihnen bei Drogengeschäften von den Bewohnern des Hauses beschissen worden seien. Wie sie dann - "das sollte unser Alibi sein" - einen Golf geklaut und sich an verschiedenen Orten der Hansestadt hatten sehen lassen. Und schließlich, wie René B. in das "Asylantenheim" eingestiegen sei und einen Holzbalken mit Benzin übergoß, während er, W., 100 Meter entfernt Schmiere gestanden habe.

Kurze Zeit später - der Fahrer hatte die Ausfahrt Richtung Grevesmühlen verpaßt, so daß die Männer ein zweites Mal an dem Gebäude vorbeifahren mußten - sei dann kein Durchkommen mehr möglich gewesen: Feuerwehrfahrzeuge und Polizei blockierten die Straße, Menschen liefen wie wirr herum, die Flüchtlingsunterkunft in der Hafenstraße 52 stand lichterloh in Flammen. Dort, wo in dieser Nacht zehn Menschen ums Leben kamen und 38 zum Teil schwer verletzt wurden, habe man dann nach kurzer Beratung "neugierige Passanten" gespielt.

In der Justizvollzugsanstalt Neustrelitz hatte die Geschichte des 20jährigen, der derzeit wegen Eigentumsdelikten einsitzt, schon lange die Runde gemacht, bevor der Spiegel dem Grevesmühlener jetzt ein weiteres Geständnis entlocken konnte. 20 000 Mark sollen sie für die Brandstiftung bekommen haben, will Knacki Alexander K. gehört haben. Ein anderer berichtet davon, es seien "Mollis geflogen". Doch nicht nur Gerüchte gehen um: So zweifelt der Knacki Raik L. nicht an der Tatbeteiligung W.s, so, wie sie ihm der Grevesmühlener erzählt hat. Aber L. ist selbst rechts eingestellt und will deshalb wohl nicht gegen jemand aussagen, der ein "Asylantenheim" angesteckt hat. Tino B. weiß: "W. hat gesehen, wie ein Neger da noch gebrannt hat, der auf dem Fußboden lag."

Ohne ihn, Tino B., wäre die Sache vielleicht gar nicht ins Rollen gekommen. Erst ein Brief des Gefangenen an seinen Freund rief den Lübecker Staatsanwalt Michael Böckenhauer und seine Kollegen von der Kripo auf den Plan. Weil ihn Maik W. wegen einer "sexuellen Nötigungsgeschichte" bei der Anstaltsleitung angeschwärzt habe, schrieb B. am 12. Februar dort über W.s Geständnisse gegenüber Mitgefangenen. Der Brief wurde erwartungsgemäß abgefangen, die Sache landete bei der Neustrelitzer Anstaltsleitung. Wenige Tage später beichtete W. dem Haft-Abteilungsleiter Peter Dannenberg: "Den Anschlag haben Dirk T., René B., Heiko P. und ich durchgeführt." Dann schilderte er Dannenberg genau den Tathergang, wie er ihn am kommenden Tag auch den vom Knastleiter informierten Strafverfolgern aus der Hansestadt darlegte.

Doch Staatsanwalt Böckenhauer und die Kripobeamten wollten dem Grevesmühlener einfach keinen Glauben schenken. Dabei hatte sich W. bislang nie große Mühe gegeben, seine Mitverantwortung an dem tödlichen Feuer zu verbergen. Schon vor dem Brand hatte der als rechtsradikal bekannte W. einem Freund verraten, er habe etwas angezündet oder werde das demnächst in Lübeck tun. Ein knappes Jahr später drohte er dem Verkäufer eines Sportgeschäftes im mecklenburgischen Güstrow, der ihn beim Ladendiebstahl erwischte, mit den Worten: "Ich war sogar beim Brandanschlag in Lübeck dabei."

Warum die Lübecker Beamten dem Grevesmühlener trotzdem auch das inzwischen dritte Geständnis partout nicht abnehmen wollten, darauf kann sich auch Haftleiter Dannenberg keinen Reim machen. Er sei "erstaunt" gewesen, daß man W. nicht glaubte, sagte er der Jungle World. Für den 20jährigen ist Dannenberg hinter den Mauern des Neustrelitzer Knastes zur Vertrauensperson geworden. "Wenn jemand zweimal quasi das gleiche sagt, dann ist das eigentlich schon glaubwürdig", wundert er sich. Schließlich müßte man die Unterschiede zwischen den beiden Versionen, die W. ihm und den Strafverfolgern präsentiert habe, mit der Lupe suchen. Im Anschluß an das Verhör notierte er sein Fazit: Die "vernehmenden Beamten glauben eher, W. spinnt! Der Staatsanwalt Böckenhauer ist sich da nicht so sicher."

W. jedenfalls hatte nach diesem Tag die Schnauze voll. Irgendwann würde die Sache sowieso mal rauskommen, dachte er sich vorher. Und dann müsse er, wenn er 28 oder 30 Jahre alt sei, die Konsequenzen tragen. Außerdem, so behaupteten seine Mitgefangenen, hätten sie sein Geständnis auf Kassette mitgeschnitten, um ihn notfalls unter Druck setzen zu können, wenn er wegen der Vergewaltigungen Ärger machen würde. Allein deshalb könnte W. ein Geständnis unumgänglich erschienen haben. Doch nun, nach den ignoranten Reaktionen der Lübecker Ermittler wußte auch er nicht mehr weiter: "Wenn man mir das Ding nachweisen will und vielleicht auch kann, kann mir niemand vorwerfen, ich hätte nicht ausgesagt."

Kurz darauf widerrief der Grevesmühlener Mann sein Geständnis. Ob seither überhaupt noch Zeugenvernehmungen in der Justizvollzugsanstalt stattgefunden haben, weiß auch Anstaltsleiter Dannenberg nicht genau. Vor zwei Wochen hätten sich Beamte angekündigt. Der Lübecker Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz hielt sich auf Jungle World-Anfragen letzte Woche wie üblich bedeckt: "Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen." Eine "Wende" in der Brandsache Hafenstraße wollte der Strafverfolger auch schon nach Bekanntwerden des Geständnisses im Frühjahr nicht erkennen. Folgerichtig sah Schultz auch nach dem in der aktuellen Ausgabe des Spiegel veröffentlichten Interviews "nicht einmal den Ansatz für einen neuen Sachverhalt".

Derzeit dürfte der Blick aus der Hansestadt ohnehin eher nach Karlsruhe gerichtet sein. Dort verhandelt am kommenden Mittwoch der Bundesgerichtshof (BGH) über eine Revisionsklage der Rechtsanwälte Wolfgang Clausen und Ullrich Haage gegen den Freispruch für Safwan Eid. Die beiden juristischen Vertreter der Familie El Omari reichten die Klage nach dem Urteil im Juni letzten Jahres ein, weil der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken sich geweigert hatte, den Inhalt von abgehörten Gesprächen mit Angehörigen zu verwerten, die der Angeklagte Eid während seines Gefängnisaufenthalts in einer Besucherzelle mit Angehörigen geführt hatte.

Ob der 3. Senat des BGH tatsächlich die Gelegenheit nutzen wird, wie es in einer Mitteilung des obersten Gerichts heißt, um "Ausführungen zur Zulässigkeit der akustischen Überwachungen der beschriebenen Art zu machen", darf allerdings bezweifelt werden. Schließlich bedarf es keines weiteren Grundsatzurteils über die Legitimität solcher Einsätze, seit die Bonner Parlamentarier Anfang des Jahres die Anwendung des Großen Lauschangriffs endgültig beschlossen haben. Zur Debatte wird also lediglich stehen, ob Wilcken die Protokolle der damals möglicherweise noch illegalen Abhöraktion hätte einbringen müssen. Wenn ja, könnte der Prozeß gegen Safwan Eid neu aufgerollt werden.

Rechtsanwalt Haage ist durchaus optimistisch: "Ich rechne mit einer Chance von fünfzig zu fünfzig Prozent", sagte er der Jungle World. Auch über die Beweistauglichkeit der Tonbandaufnahmen ist er zuversichtlich. Schließlich glaubten seine libanesischen Mandanten, die als einzige der ehemaligen Hausbewohner an eine Schuld Eids glauben, auf den Bändern sei ein Geständnis zu hören - "nach islamischem Glauben könne man sagen, da macht sich einer von der Schuld frei". In anderen Übersetzungen der protokollierten Gespräche kamen Sprachwissenschaftler zu gegenteiligen Auffassungen. Auch deshalb dürfte die Staatsanwaltschaft auf eine Revisionsklage verzichtet haben. Behördensprecher Schultz: "Wir haben davon abgesehen, weil das Verfahren selbst bei einer Zulassung der Protokolle am Ende wieder 'im Zweifel für den Angeklagten' ausgehen könnte."

Gabriele Heinecke, die Verteidigerin Safwan Eids, ist angesichts der "eigentlich nicht notwendigen" mündlichen Verhandlung skeptisch. Die Sache hätte auch schriftlich beschieden werden können. Möglicherweise sei das Verfahren nicht zufällig beim 3. Senat gelandet, jener Strafkammer also, die sich auf politische Verfahren spezialisiert hat.

So waren es auch diese Richter, die den rechtlich umstrittenen Lauschangriff gegen mutmaßliche Redakteure der kriminalisierten Zeitschrift radikal im Jahre 1994 nachträglich genehmigt hatten. Zudem, so bestätigte die Sprecherin der mittlerweile zuständigen Bundesanwaltschaft (BAW), Eva Schübel, könnten in der Karlsruher Verhandlung theoretisch nicht nur die Abhörmaßnahme gegen den Libanesen, sondern auch andere vermeintliche Verfahrensfehler erkennen und damit eine Wiederaufnahme des Prozesses erzwingen. Ihre Behörde hatte jedoch entgegen üblichen Gepflogenheiten gegenüber dem BGH keinen großen Wert auf die Aufnahme des Revisionsverfahrens gelegt und somit zum Ausdruck gebracht, der Freispruch sei zu akzeptieren.

Dabei waren es gerade die Karlsruher Bundesanwälte, die sich nach der Freilassung des Grevesmühlener Quartetts schnell mit der vermeintlichen Schuld Safwan Eids zufrieden gaben und ihren nach Lübeck gesandten Ermittler nach zwei Tagen wieder nach Hause schickten. Schließlich sei der Anfangsverdacht einer fremdenfeindlichen Straftat widerlegt, wie die Bundesbeamten bereits einen Tag nach dem Brandanschlag wußten: "Die zunächst als tatverdächtig angesehenen Jugendlichen scheiden bereits am 19. Januar wieder aus."