»Epidemie der Gewalt«

In Griechenland entwickelt sich eine radikale Strömung jenseits der Gewerkschaftsbürokratie

Die Bewegung gegen die Lehrerprüfungen war kaum beendet, da entdeckten griechische Medien eine "Epidemie der Gewalt". Die Methode ist simpel: Die oftmals militanten Kampfformen gegen verschiedene Privatisierungs- und Umstrukturierungsprojekte der sozialdemokratischen Pasok-Regierung - Olympic Airways, Ionian Bank, etc. - stellen den Nenner dar, vom Inhalt der jeweiligen Bewegungen kann so bequem abstrahiert werden.

Der griechische Staat steht unter Druck: Um den Euro nicht zu verpassen, versucht er mittels bewährter Thatcher-Methoden die Staatsverschuldung abzubauen. Das beschleunigte Tempo dieser Modernisierung stößt auf harten Widerstand. Bemerkenswert sei dabei, sagte ein Beteiligter an der Bewegung gegen die Lehrerprüfungen im Gespräch mit Jungle World, daß zum ersten Mal seit langer Zeit sich eine radikale Tendenz in der griechischen Arbeiterschaft entwickle. In den Auseinandersetzungen habe sich eine Form der Selbstorganisation etabliert, die eine Umgehung der Gewerkschaftsbürokratie erlaubt habe; und der Schritt vom Protest zum Widerstand gegen bestimmte Projekte sei vollzogen worden.

Betrachtet man die Bewegung gegen die Lehrerprüfungen genauer, erscheint dies plausibel. Im August 1997 hatte die Regierung ein Gesetzespaket für den Bildungsbereich verabschiedet. In den Universitäten sollten spezielle Studiengänge eingerichtet werden, die unmittelbar an die Nachfrage der Ökonomie angebunden sein sollen. Das Problem: Haben sich diese "Bedürfnisse" zwischen Anfang und Ende der Ausbildung geändert, war's eben Pech. In den Schulen soll die Auswahl verschärft werden, schließlich sollte die De-facto-Garantie der Universitätsabsolventen auf einen Lehrer-Job abgeschafft werden.

Bereits im Herbst vergangenen Jahres nahm wegen des Bildungspaketes die Spannung an den Universitäten zu. Am 20. November begannen, organisiert aus Vollversammlungen, die ersten Universitätsbesetzungen, die sich bis Weihnachten hinzogen. Ergebnis: Die Regierung verschob die Maßnahmen zu den Universitäten auf unbestimmte Zeit. Und in der Hoffnung auf ein Abflauen der Bewegung wurden auch die Lehrerprüfungen verschoben: Zunächst von März auf April, dann auf Mai, schließlich auf Juni.

Angesichts des Näherrückens der Prüfungen entwickelten sich auch bei den (angehenden) Lehrern politische Aktivitäten. Die sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften der Grundschul- und Gymnasiallehrer sprachen sich formal gegen die Prüfungen aus, verkündeten rund zwei Wochen vor dem Termin jedoch, sie würden Streiks und weitergehende Aktionen ablehnen. Eine radikalere Strömung hatte sich aber bereits unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie formiert. Anfang Juni trafen sich etwa 1 500 Delegierte und Einzelpersonen im Athener Polytechnikum, dem traditionsreichen Ort, von dem der Untergang der Obristenherrschaft im November 1973 seinen Ausgang genommen hatte.

Beschlossen wurde, eine autonome zentrale Koordination zu schaffen, und, was für die meisten Medien ein Skandal erster Ordnung war, die Prüfungen zu verhindern - sei es durch die Besetzung der Prüfungszentren, sei es durch deren Blockade. Faktisch bedeutete dies, sich nicht an die Grenzen der Legalität zu halten. Ein Sprecher der Bewegung, Dimitris Kusoris, stellte auf einer Pressekonferenz diese Entscheidungen vor.

Nachdem es Mitte Juni vier Tage lang zu Straßenschlachten vor den Prüfungszentren gekommen war (Jungle World, Nr. 25/98), konnte auch die Regierung nicht umhin, ihr Scheitern an diesem Punkt einzugestehen: Bildungsminister Arsenis kündigte an, im Herbst oder später eine Wiederholung der Prüfungen anzusetzen - als zweite Chance für die, die sie sabotiert hatten. Nach Gewerkschaftsangaben haben sich ihnen ohnehin nur 20 000 der 150 000 Prüflinge unterzogen.

Damit war die Angelegenheit aber nicht beendet. Dimitris Kusoris wurde im Juni von Faschisten überfallen und schwer am Kopf verletzt, Anfang vergangener Woche wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Polizeiliche Ermittlungen haben bislang zu keinen Ergebnissen geführt. Auf einer nur wenig später organisierten Demonstration in Athen gab ein Polizist Warnschüsse ab, ein Demonstrant wurde in den Bauch getroffen. Nach Darstellung der Regierung schoß der Beamte, nachdem sein Wagen von einem Molotow-Cocktail getroffen wurde. Ein mittlerweile veröffentlichter Videofilm zeigt anderes: zuerst fielen die Schüsse, danach flog der Molli. Nach griechischen Presseberichten soll zudem die Kugel verschwunden sein. Wegen dieser Vorfälle und gegen die gerichtliche Verfolgung von Aktivisten der Bewegung hat sich inzwischen ein Komitee gebildet. Sein Motto lautet: "Soziale Kämpfe sind nicht illegal oder legal, sondern gerecht."