47. Picasso macht einen Ami fertig

Fortgesetzte Erzählungen

Der Ami sah nicht gut aus. Er hatte eben Pause, als wir reinkamen, aber es war klar, daß jemand seinen Kopf als Punchingball mißbraucht hatte. Wir griffen uns also drei Flaschen Bier, warfen das Geld in die Büchse und nahmen Platz. Es waren an die zwei Dutzend Leute in dem niedrigen Gewölbe, die meisten saßen die Wände entlang auf dem Betonfußboden, aber drei Artisten, die wir ebenfalls nur vom Sehen kannten, standen an die Wände gelehnt und massierten sich die Fäuste. Der einzige, der einen Namen hatte, war Picasso, den alle nur Pinky nannten. Picasso war Maler. Im Schwabing der Jahre 1960/61 waren alle Maler, die von Haus aus Geld besaßen und nicht schreiben konnten, deshalb waren sie in der Übermacht. In Pinkies Atelier gab es nur eine einsame Feldstaffelei, auf der ein konstruktivistisches Gemälde stand. Es war schwarz-weiß und schon etwas eingestaubt. Pinky Picasso stand krumm und starrte Hobo an. Seine Augen schimmerten rot und seine Knöchel waren aufgeschlagen. Er wischte sich den Sabber vom Maul und schimpfte: "Du Schwein, ich mach dich alle! Weißt du, was wir mit einem machen, der einen Artisten beklaut?" Der Ami hatte die Augen geschlossen und stöhnte leise. Jemand schlug ihm eine trockene Faust auf den Backen und sagte: "Sprich lauter, Hobo, Picasso kann dich nicht hören." Der Ami schwankte vor und zurück, seine Arme hingen herab, und er versuchte nicht, dem Schlag auszuweichen. Pinky sagte: "Ich will meine 20 Mark haben, du mieser kleiner Penner, du Kanalratte. Schneid ihm den Zopf ab, Leo." Die weiß gestrichenen Wände des Kellers reflektierten das Licht der Neonröhren so grell, daß die Augen schmerzten. Das übertünchte Mauerwerk war makellos, und der große Raum war völlig leer bis auf die Feldstaffelei. Aus Hobos Mundwinkel lief Blut, und er versuchte zu spucken, bewegte sich aber nicht. Erst als Leo das Taschenmesser öffnete und grinste, legte er die Hände auf den Hinterkopf, torkelte ein paar Schritte, stieß versehentlich gegen die Staffelei und warf sie um, bevor er zu Boden ging. Picasso war sofort bei ihm. Seine schwarzen, glänzenden Stiefeletten waren mindestens fünf Zentimeter länger als sein Fuß und so spitz wie ein Storchenschnabel. Dazu trug er einen engen, zitronengelben Anzug. Eine Frau seufzte, als er Hobo ins Kreuz trat, und es klang wie das leise Stöhnen beim Beischlaf. Hobo zuckte übertrieben, als der Tritt ihn traf. Wir hockten an der Wand wie gelähmt. Tita zog an ihrer Zigarette und ließ den Rauch mit lautem Geräusch entweichen, und ausnahmsweise ging ihre Art zu rauchen Modder nicht auf die Nerven. Der Haß der vier Schläger war im ganzen Raum zu spüren wie eine elektrische Ladung und isolierte jede Gefühlsregung. Nur das leise Klicken der Verschlüsse der Bierflaschen zeigte die innere Anspannung der Zuschauer. Icke murmelte: "Tu was, Tita. Ich halt' das nicht aus." Hobo war unser Partner beim Pflastermalen und bei der En vendre, und wir waren ein Stück Schwabinger Bohème. Die auswärtigen Besucher lustwandelten von der Siegessäule vorbei am Schwabinger Nest und dem Rialto bis zur Freiheit rauf, um uns zu besichtigen, und die Pressefotografen zahlten eine Halbe, wenn wir uns fotografieren ließen. Ein Foto von Icke und Tita am Straßenrand erschien damals sogar in einer internationalen Fotozeitschrift als Beleg für die neue deutsche Jugend. Wir trugen Jeans, Nickis, Kutte und Turnschuhe, die Jungs hatten Bärte, die Mädchen lange offene Haare oder Kahlhieb, tags lagen wir an der Isar oder im Ungerer Bad, abends machten wir unseren kleinen Bauchladen auf, nachts hockten wir im Babalu oder in der Tarantel, und da es in ganz München höchstens einhundert Artisten gab, war unser Selbstbewußtsein unbezahlbar. Bis Richard Liebeskind kam. Er stand eines Tages neben dem Bild, das Tita und Modder aufs Pflaster stümperten, dick und tapsig wie ein Bär, schaute eine Weile zu, nahm ein Stück Kreide, strichelte an der Ikone herum und sagte: "That's the way she looks better." Sie sah tatsächlich nicht mehr wie eine verunglückte postraffaelitische Madonna aus, sondern wie Grace Kelly als High-Society-Schickse in der Version von Money talks. Er schüttelte jedem von uns die Hand, sagte "I'm just a lonesome Hobo" und behauptete, er käme aus North Carolina. Er war der erste Langhaarige in Schwabing und besaß nichts als eine Umhängetasche mit dem Aufdruck US-Army. Sie war grün wie alle Steg-Waren und prall voll Gras. Auch das Gras war grün, wie sein T-Shirt, die weite Army-Hose und die Fidel-Castro-Mütze, die er Icke schenkte, als er weiterreiste nach Casablanca. Natürlich kannten wir Kerouac, die Beatniks und die Wanderarbeiter, die in den USA auf die Züge sprangen. Aber nun stand ein solches Exemplar leibhaftig vor uns, war durch die halbe Welt getrampt, nahm einfach Platz in unserer Runde, sagte schlicht "Hobo makes you feel better" und zeigte uns, wie man aus dem groben Gras einen Joint machte, der aussah wie eine Interkontinentalrakete. Fortan verbrachte er immer ein paar Stunden bei uns, half Tita und Modder beim Pflastermalen und sang schwermütige Lieder. Dazu schlug er mit einem Stück Holz gegen eine leere Bierflasche, und wir riefen: "He, Hobo!" Wo er schlief, wußten wir nicht, wovon er lebte, auch nicht, aber jemand im Nest behauptete, ihn auf dem Schwulenstrich gesehen zu haben. Bis eines Nachts das Gerücht die Runde machte: "Picasso macht einen Ami fertig", und sich nach und nach an die zwei Dutzend Leute in seinem Keller irgendwo am Rand von Schwabing einfanden. Picasso war Hausverwalter, er verwaltete Objekte wie Danzers Stoßburgen am Englischen Garten und seinen Methoden waren nicht fein, aber da er die einzige Adresse war, wenn man ein Bett in einem Kohlenkeller suchte, war er ein begehrter Mann. Doch nun hatte er also Hobo in der Mache, und das war ein bißchen was anderes. Es kam nur drauf an, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Der kam, als Pinky sich bückte, um in den vielen Taschen von Hobos Jacke und Hose zu wühlen. Tita stand auf, hielt Pinky einen Zwanzigmarkschein hin und sagte: "Danke für den netten Abend!" Pinky schaute sie aus roten Augen an, nahm den Geldschein und sagte: "O.k., nichts zu danken." Jetzt erhoben sich auch die anderen, vertraten sich ein bißchen die Beine, besprachen, wo man noch hingehen könnte, und Aufbruchstimmung machte sich breit. Hobo war schon draußen, als wir rauskamen. Er hielt die Arme vor den Bauch, hatte sich übergeben und sein Gesicht war blutverschmiert, aber er konnte stehen. Icke sagte: "Du kannst bei uns pennen, wenn du willst." Später saßen wir auf der Matratze, Hobo kauerte in der Ecke, den Kopf auf den Knien, und Tita zog sich zehn Unterhosen übereinander an, bevor sie ins Bett ging. Wir hatten beschlossen, dem Beatnik die Matratze in Titas Zimmer zu geben, da in dem Zimmerchen, das Modder und Icke bewohnten, absolut kein Platz für eine dritte Schlafstelle war. Tita war besoffen und hundemüde und schlief sofort ein. Es war schon hell, als sie aufwachte und merkte, daß sie gefickt wurde. Hobo lag auf ihr und keuchte, war aber sonst in Ordnung, und sie fragte sich, wie er es geschafft hatte, ihr die zehn Unterhosen auszuziehen. Als er fertig war, ging sie zu den Jungs rüber. Sie saßen immer noch in Unterhosen auf der Matratze, hörten Charlie Parker, und der kleine Kellerraum war so zugekifft, daß die Wände sich bogen. "Is' was?" fragte Modder müde. "Ich wollte nur gucken, ob Ihr noch was zu trinken habt." - "Nur das hier", sagte Icke und hielt ihr die Rakete hin. Sie schüttelte den Kopf und ging wieder. Hobo lag friedlich schlafend in seinem Eckchen. Das war also im Oktober '61, und der Herbst war wirklich goldig im Englischen Garten, als wir nächsten Abend mit der En vendre begannen, und Cäsar erzählte, daß Pinky und seine Freunde Hobo nicht wegen der zwanzig Mark ..., sondern weil er versucht hätte, Pinky einen reinzuschieben, als der vollgedröhnt in seinem Nobelbett lag, aber lassen wir das.

Nächste Woche: "Ein paar Träume"