Humanitäre Alpträume

Die USA kritisieren Bonns Flüchtlingspolitik und machen Druck auf Belgrad

Gerhard Schröder warf sich bei seinem Kurzbesuch in Washington für den Kanzler in die Bresche. Schon ganz Staatsmann, verteidigte der SPD-Kandidat im Gespräch mit William Clinton vergangene Woche die Bundesregierung gegen US-Kritik an der deutschen Bosnien-Politik.

Robert Gelbard, gerade aus dem Kosovo abberufener und neuer Sonderbotschafter der Clintons für Bosnien-Herzegowina, bezeichnet es gegenüber dpa als "ironisch, daß die erzwungene Repatriierung durch Deutschland Bosnien destabilisieren und zu einer neuen Flüchtlingsflut nach Deutschland führen könnte". Ausdrücklich warnte ein weiterer hoher Beamter der Clinton-Administration, der ungenannt bleiben wollte, Deutschland davor, die Lage in Bosnien kurz vor den Parlamentswahlen durch eine überhastete Rückkehrpolitik zu verschärfen.

Nach einer ersten, internen Intervention von US-Außenministerin Madeleine Albright bei ihrem deutschen Amtskollegen Klaus Kinkel Mitte Juli haben die USA ihre scharfe Kritik an der Abschiebepolitik der Bundesregierung zum ersten Mal öffentlich gemacht. Washington befürchtet, die zwangsweise Rückführung von Muslimen und Kroaten in die Republik Srpska würde dem früheren Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und seinen Gefolgsleuten in die Hände spielen - eine mögliche Abspaltung der Srpska von Bosnien wäre die Folge, ein Aufbrechen der Kämpfe in Bosnien nicht mehr auszuschließen.

Ein Sprecher des Bonner AA spielte die Anschuldigungen herunter: Diese seien "nicht neu" und man werde nicht darauf reagieren. Die US-Vorwürfe zielen ins Herz der deutschen Politik auf dem Balkan. Von Sarajewo bis Pristina: Seit der Aufnahme von rund 350 000 Bosnien-Flüchtlingen bis 1995, von denen drei Jahre nach Friedensschluß noch 150 000 in der BRD leben, fängt jede deutsche Kosten-Nutzen-Rechnung bei der Verhinderung von neuen "Flüchtlingsströmen" an.

Eingebettet in den europäischen Konsens, daß ein Ausbrechen des Kosovo aus dem jugoslawischen Staatsverband nicht geduldet werden könne, ist die Bundesregierung damit im Unterschied zum Kroatien- und zum Bosnien-Krieg um ihre "Anerkennungspolitik" gebracht. Anders als im Dezember 1991, als BRD und EU die Sezession Sloweniens und Kroatiens sanktionierten, soll das Kosovo Bestandteil Jugoslawiens bleiben. Dafür drängt Bonn seit März um so stärker auf die Klärung der "Flüchtlingsfrage". Da jeder Flüchtling ein potentieller Sozialhilfeempfänger - und sei's nur von Sachleistungen - ist, soll er nach Ansicht von Kinkel "in der Region" bleiben.

"Regionale Flüchtlingskonzepte" sind es, die im Interesse Bonns vor allem einen "massenhaften Zustrom" von Kriegsflüchtlingen aus dem Kosovo verhindern sollen. Seit Beginn der Krise Anfang März ist die Instrumentalisierung der Flüchtlingsproblematik das deutsche Druckmittel innerhalb der Balkan-Kontaktgruppe (USA, Rußland, BRD, Großbritannien, Frankreich, Italien). Italien, das im Frühjahr noch gegen einen Investitionsstopp für Jugoslawien war, geht mit Kinkels Position mittlerweile konform.

Die Anzahl der Flüchtlinge aus Jugoslawien hingegen, die seit Ausbruch der Krise in Deutschland Asyl beantragt haben, birgt wenig von einer "explosiven Lage", wie sie ein Sprecher des Auswärtigen Amtes heraufbeschwor. Vor Ausbruch der Krise belief sie sich auf etwa 1 600 bis 2 000 monatlich, im Juni waren es nach Angaben des Bonner Innenministeriums 2 804 - keine Anzeichen für "eine akute Gefahr" oder eine sich formierende "Welle", wie Stefan Telöken vom Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in Bonn klarstellte.

Rund 170 000 sollen es nach Angaben des UNHCR inzwischen sein, die in der südserbischen Provinz selbst (120 000), in Montenegro (26 000) oder den Nachbarstaaten Mazedonien (2 000) und Albanien (12 000) auf der Flucht sind und sich haben registrieren lassen. Flüchtlingshilfsorganisationen gehen davon aus, daß die reale Zahl zwischen 200 000 und 300 000 Flüchtlingen liegen dürfte, mehr als einem Zehntel der Einwohnerzahl der Provinz.

Nach den Streicheleinheiten in der Woche zuvor, als die Clinton-Regierung Milosevic noch "Kompromißbereitschaft" attestiert hatte, zog sich der jugoslawische Präsident einen Tag nach der US-amerikanischen Schelte an der deutschen Flüchtlingspolitik ebenfalls den Ärger Washingtons zu. Angesichts der Dimension der Flüchtlingskatastrophe warnte der US-Botschafter Christopher Hill in Mazedonien vor einem "humanitären Alptraum", sollte Milosevic seine Offensive nicht, wie eine Woche zuvor versprochen, sofort beenden.

Ein Militärschlag gegen Jugoslawien, wie er von Washington noch im letzten Monat abgelehnt wurde, scheint wieder wahrscheinlicher geworden zu sein: Richard Holbrooke, der frühere Bosnien-Vermittler und designierte US-amerikanische Botschafter bei den Vereinten Nationen, sagte dem Nachrichtensender CNN: "Die serbische Offensive erhöht die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit einer aktiven westlichen Intervention militärischer Art dramatisch." Widersprüchlich bleibt die Haltung Washingtons zu Milosevic dennoch. Die Clinton-Administration ließ ihm in den letzten Wochen viel Spielraum und blockte das Drängen insbesondere des deutschen Verteidigungsministers Volker Rühe (CDU) nach Nato-Einsätzen gegen serbische Stellungen ab. Washington hielt die Verhandlungsoption offen und gab Milosevic Gelegenheit, seine Militäraktionen im Kosovo weiterzuführen, und ermöglichte somit erst die Massenflucht Zehntausender Kosovo-Albaner aus der Provinz.

Indirekt kamen Milosevic die USA zu Hilfe, als sie Schweiz und BRD kritisierten, Spendenkonten für Waffenlieferungen an die Kosovo-Befreiungsarmee UCK nicht zu sperren. Die Regierung in Bern hat die UCK-Unterstützungskonten inzwischen eingefroren, Außenminister Kinkel führte Anfang letzter Woche Gespräche mit Kosovo-Vertretern.

Und selbst am Verhandlungstisch soll das US-Außenministerium nach einem Bericht der New York Times Milosevic entgegengekommen sein: Der bisherige Kosovo-Sonderbeauftragte Robert Gelbard soll sich abfällig über Milosevic geäußert haben, woraufhin dieser sich vor einigen Wochen geweigert haben soll, mit Gelbard weiterzuverhandeln. Seitdem konferiert Milosevic mit dem US-Botschafter in Mazedonien, Hill.

Unter diesen Umständen wirkt die Ankündigung des Nato-Rats vom Freitag, schon in der nächsten Woche ins Kosovo militärisch intervenieren zu können, ähnlich konzeptlos wie im Juni. Seit zwei Monaten gibt es zwar Planungen über verschiedene militärische Optionen, das politische Ziel jedoch ist den Strategen unklar: Unabhängigkeit für das Kosovo soll es nicht sein, mehr als der frühere Autonomiestatus für die Provinz schon. Die Nato beschloß zunächst, ein weiteres Manöver an der Grenze zu Jugoslawien durchzuführen. Im Rahmen des "Partnerschaft für den Frieden"-Programms mit Albanien werden ab Ende dieser Woche mehr als 1 200 Soldaten aus 14 Ländern an den Übungen teilnehmen.

Der Präsident der Kosovo-Albaner, Ibrahim Rugova, dürfte sich mit seiner Forderung nach sofortiger Hilfe für die notleidende Bevölkerung im Kosovo am Wochenende ziemlich alleine gefühlt haben. Vielleicht hätte Rugova, der trotz der westlichen Ablehnung weiter eine Unabhängigkeit des Kosovo fordert, auf den russischen Gesandten in Belgrad hören sollen: Milosevic, so Nikolai Afanassiewski am Samstag nach Gesprächen mit dem jugoslawischen Präsidenten, habe ihm versichert, die Frage der Flüchtlingsrückkehr habe oberste Prioriät.