Von der Behinderung zum Schaden

Die Bundesärztekammer legt ihre neue Richtlinie zur Sterbehilfe vor

Eine unerwartete Wendung hat der Frankfurter Sterbehilfefall genommen. Die künstliche Ernährung der 85jährigen Schlaganfallpatienten wird nicht eingestellt. Die Tochter und Betreuerin der im Koma liegenden Patientin nahm vergangene Woche ihren entsprechenden Antrag zurück. Begründung: Der "Medienrummel" um den Fall ihrer Mutter und der "zu große Druck", der bei Erörterungen innerhalb ihrer Familie und mit Nachbarn entstanden sei.

Das Oberlandesgericht hatte letztinstanzlich entschieden, ein Abbruch der Ernährung über die Magensonde sei möglich, wenn es dem "mutmaßlichen Willen" der Patientin entspreche (Jungle World, Nr. 31/98). Mit dieser Vorgabe war der Fall an das Vormundschaftsgericht zurückverwiesen worden.

Im Gegensatz zur Tochter will die Bundesärztekammer (BÄK) den durch das Urteil neu entstanden Spielraum nutzen. Nachdem ihr Präsident Karsten Vilmar die Entscheidung sofort als "Schritt in die richtige Richtung" begrüßt hatte, macht die BÄK in der am vergangenen Freitag vorgelegten neuesten Fassung ihrer Richtlinie "zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung" die Ärzteschaft mit der umstrittenen neuen Rechtsinterpretation vertraut: "Bei nichteinwilligungsfähigen Patienten bedarf eine das Leben gefährdende Behandlung neben der Einwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten der Zustimmung des Vormundschaftsgerichtes (Paragraph 1 904 BGB). Nach der Rechtsprechung ist davon auszugehen, daß dieses auch für die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen im Vorfeld der Sterbephase gilt."

Die Ärzte können bei dieser gewagten Rechtsinterpretation aufatmen. Bisher mußten sie im Zweifelsfall mit einem Strafverfahren wegen Totschlags rechnen, jetzt können sie sich vorab bei den Vormundschaftsgerichten absichern.

Urteil und Richtlinie werden so zu einer Art Koproduktion, denn das Gericht hatte sich auf eine Argumentation gestützt, die die Ärztekammer im Entwurf zu der Richtlinie vorgegeben hatte (Jungle World, Nr. 14/98). Wie das Gericht betont die BÄK die zentrale Rolle des "Patientenwillens". Nur wie den Willen eines Neugeborenen oder eines Komapatienten feststellen? Einer der fünf Abschnitte in der Richtlinie widmet sich dem Problem, wie denn der Wille oder ersatzweise der "mutmaßliche Wille" festzustellen sei. Hier liegt das Einfallstor für bioethisches Gedankengut: Weil nicht nur nach Behandlungsabbruch bei eindeutig Sterbenden gefragt wird, muß sich die BÄK Gedanken über Kriterien machen, die ein Leben mutmaßlich nicht mehr "lebenswert" erscheinen lassen könnten.

Die Standesvertretung will freilich den Eindruck vermeiden, mit der Richtlinie werde Sterbehilfe legitimiert. So betont der Vorsitzende des zuständigen BÄK-Ausschusses, Eggert Beleites, in der Richtlinie sei erstmals das Recht der sterbenden Patienten auf "eine Basisversorgung" festgeschrieben. Auch wenn eine Lebensverlängerung nicht mehr angebracht sei, sagte Beleites der Frankfurter Rundschau, "darf es keinen Behandlungsabbruch" geben, sondern nur eine "Änderung des Behandlungsziels".

Die Kritik von Behindertenverbänden kann Beleites mit solcher Rhetorik nicht entkräften. Auch für die letzte Überarbeitung der Richtlinie gilt, was Therese Neuer-Miebach von der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung bereits von dem Entwurf gesagt hatte. Der Handlungsrahmen der Ärzte werde "drastisch erweitert". "Heute geht es nicht mehr nur um den humanen Umgang mit Sterbenden. Es geht um die Legitimation des Behandlungsabbruchs in einer Phase, die noch weit vor dem Eintreten des unumkehrbaren Sterbeprozesses liegt. Die Anpassung an den bioethischen Mainstream in der Euthanasie-Debatte ist unübersehbar."

Völlig spurlos vorübergegangen ist diese Kritik an den Standesvertretern allerdings nicht: In der Richtlinie heißt es jetzt, einen Anhaltspunkt für den mutmaßlichen Willen des Patienten, schnell zu sterben, sei seine Haltung "zu schweren Schäden in der ihm verbleibenden Lebenszeit". Im Entwurf war noch von "bleibenden Behinderungen", die dem Patienten "mutmaßlich" von einem Weiterleben abschrecken könnten, die Rede.

Von "bleibenden Behinderungen" zu "schweren Schäden" als Kriterien für den Wert eines Lebens. Ein Erfolg der kritischen Öffentlichkeit?