»Alles läuft, wie es soll«

Boris Jelzin läßt Köpfe rollen wie eh und je - und ein Amtsenthebungsverfahren hat schlechte Aussichten

Des Präsidenten Antwort war deutlich: "Ich werde jetzt nicht nach Moskau zurückkehren, denn das würde zeigen, daß es eine Krise gibt, ein Desaster, und daß alles zusammenbricht", diktierte Boris Jelzin den Reportern, die ihn bei seinem Besuch in Nowgorod am vorvergangenen Freitag begleiteten, in die Mikrofone. "Das Gegenteil ist der Fall", sagte Jelzin, "alles läuft, wie es soll. Der Präsident erholt sich, der Rubel wird definitiv nicht abgewertet."

Am Tag darauf war Jelzin wieder in der Hauptstadt; 24 Stunden später verkündete Premierminister Sergej Kirijenko die faktische Rubelabwertung, und die Moskauer Börse krachte zusammen.

Schon lange wundert sich in Rußland niemand mehr darüber, daß der Präsident heute das eine sagt und morgen etwas anderes tut. Nur reißen diese Meinungsänderungen normalerweise das Land nicht in eine fundamentale Wirtschaftskrise. Für Jelzins Kritiker war sein plötzlicher Meinungsumschwung nur ein weiterer Beweis seiner politischen Unzurechnungsfähigkeit. "Ich warne alle westlichen Investoren: Wenn sie weiterhin diesen trinkenden, amoralischen Menschen unterstützen, der sich nicht selber zügeln kann, dann sind sie mitverantwortlich für die Misere in diesem Land", kartete Kommunistenführer Gennadij Sjuganow auf einer Pressekonferenz nach. Und die Zeitungen kommentierten nahezu einheitlich, daß Jelzin die Kontrolle über die Situation längst verloren habe.

Nur die Frage, wie der selbstherrlich agierende Staatschef aus dem Amt gedrängt werden soll, kann niemand beantworten. Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind für das Jahr 2000 angesetzt, und die einzige verfassungsmäßige Möglichkeit, Boris Nikolaijewitsch früher loszuwerden, ist ein Amtsenthebungsverfahren, angelehnt an die Verfassung der USA, "Impeachment" genannt.

Zwar haben die Kommunisten es geschafft, das Impeachment-Verfahren zu einzuleiten, als 215 Duma-Abgeordnete ihren Antrag unterschrieben. Das war die Voraussetzung dafür, daß im Juni ein 15köpfiges Gremium gebildet werden konnte, das mit Mitgliedern aller Duma-Fraktionen besetzt ist und nun zusammenfassen wird, mit welchen Straftaten Jelzin Verfassungsbruch begangen haben soll - denn nur ein derartiger Verstoß kann die Grundlage dafür sein, den Präsidenten zu entmachten.

In erster Linie wird ihm in der Anklageschrift vorgeworfen, er habe unrechtmäßig die Sowjetunion aufgelöst, 1993 das Parlament gewaltsam aus dem Weißen Haus vertrieben und den Tschetschenien-Krieg begonnen. Doch sobald die Anklageschrift fertig ist, müssen 300 von 450 Duma-Abgeordneten dafür stimmen, sie an den Föderationsrat weiterzuschicken. Im Rat, der sich aus den Vertretern der Russischen Regionen zusammensetzt, müssen die Ankläger innerhalb von drei Monaten ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit zusammenbekommen, um die Vorwürfe dann schließlich von Verfassungsgericht und Oberstem Gerichtshof beurteilen zu lassen.

Damit ist der Absetzungsversuch nahezu aussichtslos, glaubt Ewgeni Wolk, ehemaliger Berater des Obersten Sowjets der Russischen Föderation und heute Direktor des Moskauer Büros der US-amerikanischen Heritage-Stiftung. "Die Impeachment-Kommission ist ein reines Propaganda-Instrument der Opposition", sagt Wolk, "das Verfahren dauert zu lange, es begünstigt den Präsidenten auf allen Stufen, und Jelzin hat viele Möglichkeiten, einen Erfolg zu verhindern."

Der Föderationsrat ist Jelzin viel freundlicher gesonnen als die Duma, weil die Regionen auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Präsidenten angewiesen sind. Und auch das Verfassungsgericht hat in den letzen Jahren möglichst jede Konfrontation mit Jelzin vermieden, nachdem dieser im Oktober 1993 die Richter kurzentschlossen für 16 Monate nach Hause schickte, weil sie die Auflösung des Obersten Sowjets für gesetzeswidrig erklärt hatten. Bei der Wiedereinsetzung erhöhte der Präsident die Zahl der Richter von 13 auf 19 und wählte die sechs neuen Mitglieder selbst aus.

Abgesehen von einem gesundheitlichen Zusammenbruch droht Jelzin damit nur eine Gefahr: die Oligarchen, Rußlands kleiner Zirkel einflußreicher Geschäftsleute, die ihn zur Amtsaufgabe zwingen könnten, sobald sich ein nützlicherer Amtsinhaber gefunden hat. "Jelzin muß sich Gedanken darüber machen, wie es nach dem Jahr 2000 weitergehen soll", erklärt Politikberater Wolk, "wer wird ihn und seine Familie schützen, wenn er nicht mehr im Amt ist, und wie will er seinen gewohnten Lebensstandard halten?"

Indem er am vergangenen Sonntag Premierminister Kirijenko absetzte, könnte der Präsident zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen haben und sich eine weitere Möglichkeit offenhalten, die dem starrsinnigen Patriarchen bislang wirklich niemand zugetraut hatte: den freiwilligen Rücktritt. In diesem Fall würde nämlich der amtierende Premierminister geschäftsführend das Präsidentenamt übernehmen. Daß der 36jährige Kirijenko diese Aufgabe erfüllen könnte, war sowohl für Politiker als auch die Finanzwelt in Rußland undenkbar. Sein Nachfolger und Amtsvorgänger Viktor Tschernomyrdin hingegen ist dafür der ideale Kandidat: Als ehemaliger Chef des größten russischen Unternehmens Gazprom gehört er selber zur Finanzoligarchie und kennt deren Interessen bestens.

Und daß Jelzins Tochter und Beraterin Tatjana Djatschenko nach neuesten Moskauer Zeitungsberichten vor kurzem ein prachtvolles Schlößchen in Garmisch-Partenkirchen erworben hat und damit "Familie Jelzins Übergang über die Alpen" vorbereitet, kann durchaus als weiterer Hinweis auf Boris Nikolaijewitschs Amtsmüdigkeit verstanden werden.