Atommacht Krasnojarsk

Mit seinen Drohungen beschleunigt Alexander Lebed das russische Krisenkarussell

"Geht und kauft so viele Lebensmittel, wie ihr könnt", riet die Komsomolskaja Prawda ihren Lesern kurz vor der faktischen Abwertung des Rubels. Wer das Geld aufbringen konnte, befolgte den Rat. Präsident Jelzin zog sich fluchtartig in seine Jagdhütte außerhalb von Moskau zurück. Wieder einmal war seine Großmäuligkeit schnell durch die Realität widerlegt worden.

"Unser Präsident ist völlig entwertet worden", erklärte kurz darauf Kommunistenchef Sjuganow. Militärisch knapp und angriffslustig zeigte sich der ehemalige General Alexander Lebed: "Die Regierung hat eine Erklärung der Zahlungsunfähigkeit unterzeichnet. Die Regierung hat eingestanden, daß Rußland durch und durch bankrott ist."

Die Wiedergewinnung einstiger russischer Größe ist der Hauptpunkt im Programm des jetzigen Gouverneurs der Region Krasnojarks, die - reich an Bodenschätzen - 14 Prozent des russischen Territoriums einnimmt. Seine Zielgruppe sind heruntergekommene Reste der einstmals ruhmreichen Roten Armee. Provokationen und Überraschungsmomente sind seine taktischen Mittel im Kampf gegen Jelzin. Lebed ist als Präsidentschaftskandidat im Gespräch. Im Moment hält er sich in dieser Frage noch bedeckt.

In einer Zeit, in der die Ermordung des prominenten ehemaligen Generals und Jelzin-Gegners Lew Rochlin durch seine alkoholkranke Ehefrau sofort zu der Spekulation führt, ob der Präsident des Landes darin verwickelt gewesen sein könnte, ist allerdings Vorsicht geboten. Besonders, wenn man - wie Lebed - in einem Offenen Brief dem Ministerpräsidenten mit ungewöhnlichen Maßnahmen droht. Dann ist es notwendig, ein Postskriptum anzufügen: "Ich bitte inständig darum, den Brief nicht an die Kommission zur Bekämpfung des politischen Extremismus weiterzuleiten. Ich bin kein Extremist. Meine Gedanken sind im Vergleich zu den Gedanken der Offiziere des Uschursker Raketenverbandes rein wie die Tränen eines Kindes."

Die Offiziere des dortigen Atomraketenverbandes seien ernsthafte Menschen, teilt Lebed dem Ministerpräsidenten mit. Und ergänzt sofort: "Hungrige Offiziere sind sehr wütende Offiziere." Seit fünf Monaten sei bereits kein Sold mehr gezahlt worden, die Offiziersfrauen liefen die Türen des Hauptquartiers ein. Lebeds Drohung: "Ich denke ernsthaft darüber nach, ob wir den Verband nicht der Jurisdiktion der Region unterstellen sollten. Wir Bewohner der Region Krasnojarsk sind bislang nicht reich, aber mit dem Status einer nuklearen Region werden wir wohl den Verband ernähren und dabei ebenso wie Indien und Pakistan der Weltgemeinschaft Kopfschmerzen bereiten."

Lebeds Schlußfolgerung ist, daß der Osten des Landes von der Regierung bereits abgeschrieben ist, sich deren Krisenmanagement schon längst nur noch auf den europäischen Teil Rußlands beschränkt. Das Militär und vor allem dessen Ausbildungsstätten befänden sich in rasantem Verfall. Jeder Schritt, den der selbsternannte "Halbdemokrat" Lebed - der von sich stolz verkündet: "Ich bin General - nicht liberal" - gegenwärtig unternimmt, ist darauf gerichtet, die Regierung weiter in die Defensive zu drängen, die unliebsame kommunistische Konkurrenz an Verbalradikalität zu übertreffen und ihr zugleich die anti-demokratische nationalistische Opposition als Bündnispartner abspenstig zu machen. Jede öffentliche Aussage ist ein Vorgeplänkel im Kampf um die Macht, um den senilen Jelzin zu beerben.

Auf einige der zehn reichsten Männer des Landes kann er dabei bereits zählen. Der Favorit des Militärs ist er ohnehin. Die Chancen stehen also nicht schlecht und werden von Tag zu Tag besser.

Um die im Postskriptum seines Briefes erwähnte Kommission zur Bekämpfung des politischen Extremismus braucht er sich nicht zu kümmern. Die ist vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Die Köpfe rollen dort mit ähnlicher Häufigkeit wie in der Regierung. Erst im Juli wurde Innenminister Stepaschin als Vorsitzender durch den Justizminister abgelöst, der ehemalige Innenminister Kulikow selbst als extremismusverdächtig "entlarvt" und ganz aus der Kommission entfernt.

Das bisher einzig greifbare Ergebnis der Kommission ist ein Gesetzes-Entwurf, der das Verbot von Nazi-Symbolen und -Literatur vorsieht. Der neue Vorsitzende Krascheninnikow sieht noch viel Arbeit: "In Rußland gibt es immer noch kein Gesetz über den Faschismus, der politische Extremismus ist wissenschaftlich nicht definiert, und es fehlt an Institutionen, die imstande wären, den Faschismus politologisch richtig zu deuten."

Dabei ist dies in der russischen Politik sehr einfach: Die Faschisten sind immer die anderen. Nur Lebed macht eine Ausnahme. Für ihn herrscht bereits die Anarchie. Er drängte die Regierung auf eine schnelle Antwort auf seinen Brief, "da ich nicht sicher bin, ob ich in einem Staat lebe". Gibt es also demnächst eine Atommacht Krasnojarsk? Vermutlich nicht so schnell. Lebed läßt sich Zeit bei der Demontage Jelzins. Bis zur Präsidentenwahl.

Und die rückt im Krisenkarussell schnell näher. Mit 245 zu 32 Stimmen forderte die Duma in seltener Einmütigkeit vergangene Woche den Rücktritt Jelzins und Kirijenkos. Sogar die ultraliberale, regierungsnahe Partei Unser Haus Rußland unter Viktor Tschernomyrdin schloß sich diesmal den Forderungen an. Mit Erfolg: Dem erfolglosen Vorgänger Kirijenkos gelang das Kunststück, nun dessen Nachfolge anzutreten.

Nur Jelzin gibt sich gewohnt siegessicher: man dürfe nicht vergessen, daß es noch einen Präsidenten gibt. In der Tat: noch.