Pathologie des Berlinischen

Det jibs nich

Dialekt sprechen zu müssen, ist ein Verhängnis, einen Dialekt sprechen zu können, ist ein Vergnügen. Wann immer ich nach Baden-Württemberg komme, überkommt mich eine unstillbare Lust, Diminutive zu bilden; dazu bietet nur das Russische mehr Möglichkeiten als das Schwäbische. Ich wünsche dann nicht nur "Guets Nächtle", sondern auch "Guets Appetitle, Erfölgle, viel Späßle" usw.

Ein Ernsthafterer mag einwenden, daß der schwäbische Diminutiv von einer Verzwergung nicht nur der Sprache, sondern auch des Denkens zeugt. Dem ist angesichts von Klaus Kinkel kaum zu widersprechen. Aber ich bestehe darauf, daß jeder Dialekt einen Dinge sagen läßt, die nur in ihm möglich sind. Mein eigener Dialekt (das Rheinfränkische) ist gewiß das Idiom der Idiotie schlechthin. Aber in keiner Sprache läßt sich treffender formulieren, daß einem alles scheißegal ist ("Komm isch heit net, komm isch morje", "Ei joh dann").

Der spezifische Ausdruck, der emotionale Wert des Berlinischen ist die Gemeinheit. Das liegt nicht an seinem (beschränkten) Vokabular oder an seinen grammatischen Formen (beispielsweise dem sog. Akkudativ: "Uff mir kannste dir verlassen"), sondern an seiner Intonation. Noch bevor man in der Amtsstube seinen Antrag schlotternd vorgetragen hat, teilt einem schon der Tonfall des Beamten unmißverständlich mit, daß es Ärger geben wird.

Diesen aus Angriffslust, Aufschneiderei und Beleidigtheit gemischten Ton trifft keine andere deutsche Mundart. Um es noch übler zu machen, tritt, wenn mehrere Berliner beieinander sind, die berlinische Kommunikationsstrategie hinzu: Wort abschneiden und sich gegenseitig überbieten. Der erste Berliner hat seinen blöden Witz noch nicht zu Ende erzählt, da kommt schon der zweite mit einem noch blöderen, der dritte wartet das Ende nicht ab und gibt noch aufdringlicher seinen Senf dazu. Man wird sagen, das sei großstädtischer Umgang. Aber zwischen einem trockenen New Yorker Witz und einem Spandauer Spaß besteht ein Unterschied.

Warum nur, warum, jammert nun der Berliner, jibs so ville "Antiberliner" in unserer Hauptstadt? Das hat vielleicht mehr mit Zufall als mit Entscheidung zu tun. Man treibt an ein fremdes Gestade, und eh man sich's versieht, wird man von Eberhard Diepgen regiert. Ich frage mich, ob das Berlinern verschwinden wird, wenn die Berliner, wie geweissagt wird, demnächst aussterben. Verblüffenderweise tauchen sie bei ihrem Weggang um so häufiger in den Schlagzeilen auf. Im Berliner Kurier hieß es kürzlich: "Berliner rammt Berliner: Sieben Tote". Besser wäre gewesen: "Berliner rammt Berliner: Sieben tote Berliner".