Suche nach dem Lebenswert

Euthanasie-Debatte: Die Kassen wollen künstliche Ernährung nicht mehr bezahlen, die Ärztekammer will den Schutz für Koma-Patienten verbessern, für Neugeborene verschlechtern

Die Auseinandersetzung über "Euthanasie" in der Bundesrepublik kommt so schnell nicht zum Stillstand. Kurz nachdem das Oberlandesgericht Frankfurt die Tötung einer alten Frau im Koma durch Nahrungsentzug zulassen wollte, weil "eine Besserung ihres Zustandes" nicht zu erwarten sei, hat die Bundesärztekammer eine Neufassung ihres Entwurfs für eine "Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung" der Öffentlichkeit vorgestellt. (Jungle World, Nr. 34/98)

Über diesen Entwurf soll in den nächsten Wochen im Vorstand beraten werden - ob er in dieser Fassung, die in manchen Passagen deutlich von dem ersten, im April 1997 konzipierten Text abweicht, beschlossen werden wird, ist nicht absehbar. Gleichzeitig hat der Bundesfachausschuß von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Krankenkassen, der den Leistungskatalog festlegt, diskutiert, die künstliche Nahrung aus dem Spektrum der Leistungen, die finanziert werden müssen, zu streichen: Damit würde für die Angehörigen von Koma-Patienten der Druck steigen, ihre Angehörigen sterben zu lassen.

Charakteristisch für die bundesdeutsche Debatte um Lebenlassen und Töten ist zum einen, daß es nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, eine abstrakte Debatte ist. Es geht auch längst nicht mehr um Einzelfälle, wenngleich es jeweils einzelne Schicksale sind, die die Medien beschäftigen. Die kontroverse Diskussion, die eng verkoppelt ist mit einer medizinischen Praxis, ringt derzeit um die Beibehaltung alter bzw. um die Setzung neuer medizinischer Behandlungsstandards. Insofern ist es kein Zufall, daß die Behandlung von Patienten im Wachkoma im Zentrum der Auseinandersetzung steht: Zwar wird allgemein behauptet, man handele im Interesse der Patienten und ihres Selbstbestimmungsrechtes, das erweist sich aber als Fiktion, da dieses Selbstbestimmungsrecht von der ins Visier genommenen Patientengruppe gerade nicht ausgeübt werden kann.

Die Debatte über das vermeintliche Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrecht dieser Patienten durch andere ist vielmehr eine Camouflage für die gesellschaftliche Kontroverse um die Frage, ob es überhaupt ein aufgrund objektiver Standards feststellbar "lebensunwertes" Leben gibt und ob dieses auch entsprechend behandelt, im Klartext vernichtet werden soll. Sowohl die Übernahme von Leitsatz-Formulierungen des Bundesgerichtshofs (BGH) in einem Strafverfahren um versuchte Tötung durch Unterlassen künstlicher Ernährung vor vier Jahren als auch der grundsätzliche Charakter der ärztlichen Richtlinien zur Sterbebegleitung, die ausdrücklich mit Blick auf die grundlegende Entscheidung des BGH neu gefaßt werden sollen, machen klar, daß es tatsächlich um die Etablierung neuer, allgemeingültiger Standards geht.

Weniger klar fällt allerdings das Ergebnis der Auseinandersetzungen zum jetzigen Zeitpunkt aus: Zwar besteht die Gefahr, daß die Entscheidung des OLG Frankfurt, eine gezielte Tötung durch Nahrungsentzug sei rechtlich zulässig, auch andere Gerichte zur Preisgabe des Lebensrechtes schwerstbehinderter, artikulationsunfähiger Menschen motivieren wird.

Daß die Angehörigen der Koma-Patientin, deren Leben beendet werden sollte, diesen Antrag zurückgezogen haben, dürfte allerdings den juristischen Zug Richtung "Euthanasie" wieder verlangsamen: Dadurch ist zum einen deutlich geworden, wie wenig solide der "mutmaßliche Wille" der Betroffenen, den die Angehörigen behaupten, tatsächlich ermittelt werden kann, zum anderen zeigt sich, daß Angehörige sich auch über das, was ihr Antrag auf Nahrungsentzug tatsächlich bedeutet, nicht immer im Bilde sind.

Auch die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung sind in ihrer Neufassung keine klare Unterstützung der Rechtsprechung: Zwar wird nicht, wie von EuthanasiegegnerInnen gefordert, die künstliche Ernährung an sich zur unverzichtbaren Basisversorgung gezählt, sondern nur das Stillen von Hunger und Durst, was durchaus anders als durch Kalorienzufuhr geschehen kann. Bei nicht-sterbenden Patienten mit lebensbedrohender Schädigung, zu denen auch die Koma-Patienten zählen, wird aber ausdrücklich in Erweiterung der Basisversorgung auch die künstliche Ernährung als gebotene Behandlungsmaßnahme aufgeführt.

Diese Pflicht zur Weiterführung lebenserhaltender Maßnahmen wird in einer folgenden Passage zwar wieder eingeschränkt, wenn beispielsweise weitere Vitalfunktionen ausgefallen sind - insgesamt sind die Richtlinien aber so formuliert, daß sowohl im vom BGH Strafsenat entschiedenen "Kemptener Fall", als auch bei der jetzt von einem Zivilsenat des Frankfurter OLG beurteilten Situation ein Abbruch der Ernährung nach ärztlichen Standesrichtlinien nicht zulässig gewesen wäre.

Hier hatten die Interventionen von Euthanasie-GegnerInnen zumindest bei Ärzten und Angehörigen Erfolge. Es hat sich gezeigt, daß "Euthanasie", wenn die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Probleme gelenkt wird, nicht so einfach durchzusetzen ist, wie es sich deren Propagandisten wünschen. Dagegen ist mit Blick auf schwergeschädigte Neugeborene, für deren Probleme sich die Öffentlichkeit deutlich weniger interessiert, in der Neufassung der Richtlinien zur Sterbebegleitung ein Tor aufgestoßen worden: Bei "Neugeborenen mit schwersten Fehlbildungen, schweren Stoffwechselstörungen oder schwersten Zerstörungen des Gehirns" sollen "im Einvernehmen mit den Eltern" lebenserhaltende Maßnahmen, die ungenügende Vitalfunktionen ersetzen, unterlassen oder abgebrochen werden dürfen.

Mit dieser über die derzeit gültigen Richtlinien weit hinausreichenden Formulierung kann, wegen der weiten Auslegbarkeit dieser Begriffe, ein weiter Kreis von Neugeborenen mit Organfehlern oder schweren geistigen Behinderungen aus dem Kreis derer, die ein Lebensrecht haben, ausgeschlossen werden.