Traum und Alptraum

Frankreich ehrt die bessere Hälfte des Julien Green

"Meine Romane sind meine Träume", hat Julien Green einmal bemerkt. "Man könnte sagen", schreibt dazu Jacques Brenner in seinem Nachruf auf den Schriftsteller in Le Figaro, "es seien seine Alpträume, denn er erzählt erschreckende Geschichten. Haß, Geiz, Einsamkeit, Verrücktheit und Tod nehmen mehr Platz ein als die Liebe. Julien Green ist ein Romanschriftsteller mit dunkler Phantasie."

Geboren am 6. September 1900, hat Julien Green das Jahrhundert durchmessen. Seine erste Erzählung, "The Apprentice Psychiatrist", die Geschichte eines Arztes, der sich zunehmend in seine eigenen psychischen Problemen verstrickt, erscheint im Jahr 1920 im University of Virginia Magazine, während Green, Kind amerikanischer Eltern, der früh nach Paris übersiedelt war, einen dreijährigen Studienaufenthalt in den USA verbringt.

Seit seinem ersten in französischer Sprache geschriebenen Roman, "Mont-Cinère" (1926), sind insgesamt rund 60 Werke von Julien Green erschienen - Romane, Novellen, Theaterstücke, Biographien und die 17 Bände umfassenden Tagebücher, die von 1928 bis 1996 reichen und allein ihrer enzyklopädischen Ausmaße wegen in der Literaturgeschichte einmalig sind.

Der junge Green, Schüler des Pariser Gymnasiums Janson-de-Sailly, sei durch seinen besonderen familiären Hintergrund geprägt, schreibt Roland Jaccard, der mit Green bekannt war, in seinem Nachruf für Le Monde: "Sein Vater kam aus Virginia, seine Mutter aus Georgia, und weder der eine noch die andere hatten jemals den Sieg des Sternenbanners über die Truppen von General Lee akzeptiert. Der Schatten der Niederlage der Südstaatler lastete auf der Kindheit Juliens. Seine Schulkameraden, denen er seine Herkunft zu erklären versuchte, verstanden ihn nicht, mit Ausnahme eines Jungen, der die Dinge so zusammenfaßte: 'Kurz gesagt, du gehörst einer Nation an, die nicht mehr existiert.'"

Seine Jugend wird von zwei für Julien Green einschneidenden Ereignissen geprägt, dem Tod seiner Mutter Mary Hartdrige Green, als er 14 Jahre alt ist, sowie seinem freiwilligen Eintritt in den American Field Service während des Ersten Weltkriegs. Da er noch zu jung ist, darf Green, "The Kid", wie ihn die Soldaten nennen, nicht mit der Waffe kämpfen. Er wird im Lazarett eingesetzt, zunächst im Schlachthaus von Verdun, später an der italienischen Front. Bereits ein Jahr vor seiner Verpflichtung als Soldat ist Green, 1916, vom protestantischen Glauben seiner Eltern zum Katholizismus übergetreten.

Als einen weiteren biographischen Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit Julien Greens betrachtet Roland Jaccard in Le Monde die zwanghafte Erziehung des Elternhauses: "In 'Partir avant le jour' hat Green seine behütete Kindheit erwähnt, umgeben von (...) einem meist abwesenden Vater und einer exzessiv puritanischen Mutter, die ihm jeden Abend die Bibel auf englisch vorlas. (...) Er hat auch erzählt, wie seine Mutter, als er fünf Jahre alt war, drohte, ihn mit einem Messer zu kastrieren ('I'll cut it off', schrie sie ihn an), weil sie ihn beim Onanieren erwischt hatte. (...) Seine Mutter war es auch, die ihm kurz vor ihrem Tod von einem Bruder erzählte, den sie geliebt hatte und der an Syphilis verstorben war. So versteht man seine Unruhe und seinen Ekel vor dem Fleischlichen besser."

Dieser Widerwillen steigert sich, als Green seine Homosexualität entdeckt, die ihn sein ganzes Leben lang mit einem schlechten Gewissen erfüllt: "Green hat nie aufgehört", so Jaccard, "sich gegen die fleischlichen Versuchungen aufzulehnen. Er ging vollkommen auf in dieser Zerrissenheit einer Seele, in der Suche nach Gott, und gab in Scham, mit Schrecken und Schuldgefühlen den Bedürfnissen einer 'anormalen' Sexualität nach."

Green selbst hatte in einem Interview mit dem Figaro erklärt: "Für mich war die Sexualität stets ein abscheuliches Entzücken. Schließlich habe ich einen Befehl bekommen. Ich habe darauf verzichtet." Und in einem anderen Gespräch, das er 1993 Le Monde gewährt hatte, führt er aus: "Es gab bei mir in verschiedenen Lebensphasen ein Gefühl des Erschreckens vor der Sexualität im allgemeinen und vor der Homosexualität im besonderen. (...) 1958 habe ich sie (die Homosexualität) aus der Welt geschafft. Ich hörte eine Stimme, die mir sagte: 'Jetzt oder nie.' Ich habe geantwortet: 'Wenn Du mir nicht hilfst, kann ich nichts tun.' Die Hilfe kam, aber es war eine Erfahrung, die mich zerriß. Das hat mindestens zwei Jahre gedauert." So tauchen in Greens Schriften immer wieder "komplexbeladene Männer oder schuldbewußte Frauen auf. (...) Der Kampf zwischen Gut und Böse auf dem Grunde der Seelen hört nie auf", schreibt Alain Bosquet im Figaro.

Im Jahr 1971 wurde der Verfasser von "Adrienne Mesurat" (1927), "Léviathan" (1929), "Treibgut" (1932) und "Die Geisterseher" (1934) in die Académie Fran ç aise gewählt, wo er den nach dem Tod des katholischen Schriftsteller Fran ç ois Mauriac vakanten Platz einnahm. Im Jahr 1996 erklärte er, zum Entsetzen der versammelten Eminenzen, seinen Austritt "aus Geschmack an der Freiheit".

Green sucht Zuflucht im Katholizismus, der seine Existenzangst absorbiert, aber auch mit seinen sinnlichen Bedürfnissen aufgeladen wird. Daher rührte, so Bertrand Poirot-Delpech, seine große Enttäuschung, als der Vatikan beginnt, den Katholizismus zur modernen Welt hin zu öffnen und "auf den liturgischen Prunk verzichtet, der den jungen Protestanten angezogen hatte".

Ab Mitte der zwanziger Jahre wendet er sich von der römischen Kirche ab und einem von Existenzangst geprägten Agnostizismus zu, um 1938 erneut zum Katholizismus zurückzukehren. Die Modernisierungsbemühungen des Zweiten Vatikanischen Konzils hat Green innerlich nie akzeptiert, "der christliche Humanismus ist ihm fremd (...), er ist nicht der Mann der halben Sachen oder der Kompromisse", schreibt Roland Jaccard. Green sagte von sich selbst: "Ich bin Katholik und Schriftsteller, aber kein katholischer Schriftsteller."

Erstaunlich, daß mit Ausnahme der beiden in Le Monde erschienenen Nachrufe Greens Homosexualität keine Rolle spielt oder nur implizite Erwähnung findet. So schreibt Jacques Brenner im Figaro von einer "wenig orthodoxen Sinnlichkeit", "der zu widerstehen

Green entschlossen war".

"Ich liebe die Frauen", sagt Julien Green in einem Interview, das der Figaro ausführlich dokumentiert. "Wir, die Männer, wir haben die Vernunft; sie (die Frauen) haben die Intuition. Sie verstehen somit Dinge, die oft über uns hinausgehen, und sie verstehen, ohne zu urteilen, mit dem Instinkt der Liebe." Offenkundig ist man beim Figaro der Ansicht, die Veröffentlichung dieser Bemerkungen sei dem Bild des Verstorbenen weniger abträglich als eine Erwähnung seiner Homosexualität.

Julien Green, so Jaccard in Le Monde, hat in seinen vor allem autobiographischen Schriften "spontan eine Haltung angenommen, die der Psychoanalyse nahekommt", auch wenn dieser selbst nicht viel von der Psychoanalyse gehalten hat. "Eine andere Person ist in mir, die ich nicht kenne und nicht kennen kann", zitiert Antoine de Gaudemar in Libération eine charakteristische Äußerung Julien Greens, der über seine Schriften gesagt hat: "Meine Bücher sind die Bücher eines Gefangenen, der von Freiheit träumt." Oder auch: "Es scheint mir bisweilen, daß ich nicht lebe, sondern, daß ich träume, daß ich lebe. (...) Vielleicht wird der Tod für uns alle das große Erwachen sein."

Wie erst am Dienstag letzter Woche bekannt wurde, ist Julien Green am 13. August in Paris, drei Wochen vor seinem 98. Geburtstag, gestorben. Seinem eigenen Wunsch entsprechend, ist er im österreichischen Klagenfurt beigesetzt worden.