»Türkische Ausmaße«

Die Polizei-Schläger, die 1994 den Journalisten Oliver Neß überfielen, dürfen sich freuen: Der BGH erwägt einen Freispruch

Mit dem heutigen Tag sei für ihn das Verfahren zu Ende. Das sagte am vergangenen Freitag der Fernsehjournalist Oliver Neß während einer Pressekonferenz zu seinem Fall. Zuvor war bekannt geworden, daß der Bundesgerichtshof erwägt, das Urteil gegen die Polizisten, die Neß vor vier Jahren mißhandelten, aufzuheben. Neß: "Das hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun." Ihn interessiere nicht mehr, was in diesem Fall Recht ist oder wie Recht gesprochen werde: "Ich weiß, was ich erlebt habe."

Der Überfall auf Oliver Neß gilt als einer der bestdokumentierten Polizeiübergriffe in der Geschichte der Republik. Dennoch sei zweifelhaft, ob die vom Hamburger Landgericht verurteilten Polizisten beim Verdrehen des Fußes von Neß "die Grenzen erlaubten Vorgehens in der konkreten Einsatzsituation pflichtwidrig überschritten" haben. So steht es in einem Vermerk des für das Revisionsverfahren zuständigen Senats des Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig an den Generalbundesanwalt. Darüber hinaus rügt der BGH die "gänzlich unverständliche Verfahrensverzögerung" der Staatsanwaltschaft Hamburg. Gut 23 Monate brauchte die Akte Neß, um von Hamburg nach Leipzig zu kommen.

Zweifel an der Beweiswürdigung des Hamburger Gerichts und die lange Aktenreise sind für den BGH Grund, um dem Generalbundesanwalt mitzuteilen, man gedenke auf dem Wege der
"Durchentscheidung" die beiden Polizisten, die Oliver Neß nachweislich mißhandelt haben und vom Landgericht Hamburg zu geringen Geldstrafen verurteilt wurden, freizusprechen.

Der Polizeiskandal mausert sich zum Justizskandal, findet der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner. Was hier vor sich gehe, sei eine "Kumpanei zwischen Polizei und Justiz von fast türkischem Ausmaß", sagte der Staatsrechtler Norman Paech von der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg.

Mit Gössner und Paech traten am vergangenen Freitag der Verfassungsrechtler Jürgen Seifert aus Hannover, Wolf-Dieter Narr von der Freien Universität Berlin, der Leiter des Kriminologischen Instituts Hamburg, Fritz Sack, der Schauspieler Rolf Becker als Vertreter der IG Medien und der Journalist Eckart Spoo vor die Presse in Hamburg, um den Fall Neß zu kommentieren.

Bis zum Mai 1994 hatte der Fernsehjournalist mehrere Reportagen - unter anderem in "Monitor" - über Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten veröffentlicht. Am 30. Mai 1994 beobachtete er eine Kundgebung des östereichischen Rechtsradikalen Jörg Haider auf dem Gänsemarkt in Hamburg. Zahlreiche Zivilpolizisten mischen sich unter die Menge. Von zweien wird Neß kurz hintereinander angezischt: "Wir kennen uns ja."

Plötzlich wurde Neß von mehreren Polizisten in Zivil und Uniform zu Boden gerissen. Fünf Beamte prügelten auf ihn ein, mehrere andere sicherten den "Tatort". Mit Reizgaspistolen wurden Augenzeugen auf Distanz gehalten.Neß erlitt schwere Prellungen, einen doppelten Bänderriß und weitere Verletzungen.Nach Aussagen seiner Ärzte war sein Fuß ein "Trümmerfeld" und mußte in zweijähriger Behandlung "zusammengebastelt" werden.

Wochen nach dem Vorfall gab Neß zu Protokoll: "Nach allem, was mir heute bekannt ist, glaube ich nicht an einen Zufall." Hier sei eine "alte Rechnung" beglichen worden, mutmaßten auch Kollegen von Neß. Die Hamburger Polizei begann zu ermitteln - gegen sich selbst. Das dauerte rund zwei Jahre und wundersame Dinge passierten: Obwohl dazu verpflichtet, die Funkprotokolle aufzubewahren, waren diese "aus Versehen" gelöscht worden. Dann behauptete die Polizei, sie habe kein eigenes Videomaterial. Erst als Fernsehbilder belegten, daß Polizisten das Geschehen filmten, tauchte das Polizeivideo auf. Der Zeitcode zeigt Überraschendes: Bei 13.24 Uhr bricht das Bild ab und baut sich bei 13.30 Uhr wieder auf. Sechs Minuten fehlen.

Der für die Produktionsfirma RTC arbeitende Kameramann Thomas Reinecke hat die Szene gefilmt. Es gibt kaum einen Fernsehsender, der diese Szenen nicht gesendet hat. Am 28. August 1994 kamen Kripobeamte mit einem Durchsuchungsbefehl zu RTC und beschlagnahmten das Material.

Die Reporterin Britta Ekberg, die Reinecke begleitet hat, berichtete vergangene Woche im Fernsehmagazin "Kontraste": "Als Neß am Boden lag, waren so viele Polizeibeamte auf ihm darauf, also fünf oder sechs mit Sicherheit. Und außerdem - wie auf dem Film zu sehen - Zivilbeamte, die das Ganze mit Tränengas gesichert haben, auch damit wir nicht näher rankamen." Der taz-Fotograf Kai von Appen fotografierte die Szene ebenfalls - auf seinen Bildern sind einige der Täter klar erkennbar.

Obwohl genügend Material vorlag, reichte das der Hamburger Polizei nicht. Beamte, die vor Ort im Einsatz waren, wurden im Zehn-Minuten-Takt vernommen, wie Protokolle beweisen. Keiner der Beamten konnte sich an das erinnern, was um die Mittagszeit des 30. Mai 1994 auf dem Gänsemarkt vorgefallen ist. Dagegen wird aus den Ermittlungsakten ersichtlich, daß Oliver Neß seit Jahren vom Staatsschutz des Landeskriminalamts observiert wurde.

Selbst als er auf Anraten seiner Ärzte nach diversen Operationen mit leichtem Lauftraining begann, war er nicht alleine: "Herr Neß war schon ziemlich verschwitzt, ich konnte deutlich Wasserflecken auf seinem T-Shirt erkennen", so einer der verdeckten Ermittler in seinem Oberservationsbericht, der "Kontraste" vorliegt.

Im Gegensatz zu den Polizisten wurden zivile Zeugen von der Staatsanwaltschaft stundenlang vernommen. Aus den Foto- und Filmdokumenten ist ersichtlich, daß mindestens zehn Polizisten an dem Überfall und an der Mißhandlung direkt beteiligt waren. Aber nur gegen fünf wurde tatsächlich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Gegen drei Polizisten wurde Anklage erhoben, zwei wurden schließlich am 26. Juni 1996 zu geringen Geldstrafen verurteilt: wegen "fahrlässiger Körperverletzung" der eine zu 4 800 Mark und wegen "Nötigung" der andere zu 3 200 Mark. In der Urteilsbegründung heißt es immerhin, einer der beiden Polizisten habe an Neß "ein Exempel statuieren" wollen.Neß und seine Anwälte empfanden das Urteil als zu milde und wollten eine Revision des Urteils. Der Weg zum Bundesgerichtshof begann.

Die Verfahrensverzögerung durch die Hamburger Staatsanwaltschaft wird nun vom BGH zugunsten der verurteilten Polizisten gewertet: Die "hohe persönliche, namentlich berufliche Belastung der Angeklagten durch das Verfahren ist bedeutsam", heißt es im Schreiben an den Generalbundesanwalt. Weiter ist der BGH der Meinung, es sei nicht auszuschließen, daß Neß vielleicht doch als "Störer" zu sehen sei, dann läge ein "begründeter Verdacht des Landfriedensbruchs" vor. Der Staatsanwaltschaft Hamburg wird der Vorwurf gemacht, nicht auch in dieser Richtung ermittelt zu haben. Darüber hinaus wird vom BGH bezweifelt, ob der Kraftaufwand des Polizisten beim Verdrehen des Fußes tatsächlich rechtswidrig war.

Eckart Spoo, jahrelang für die IG Medien im Presserat - dem Selbstkontrollorgan der deutschen Presse - aktiv, wertet den voraussichtlichen BGH-Freispruch als "Ermunterung und Bedrohung", zukünftig kritische Journalisten auszuschalten: "Dann kann man nicht mehr von einer freien Presse reden." Und Wolf-Dieter Narr erklärte, den verurteilten Polizisten werde vom Landgericht "eine unschuldige Naivität unterstellt, die sie anders für ihren Beruf geradezu unfähig" mache. Das gesamte Verfahren "zeichnet sich gegenwärtig durch mehrere, sich kumulierende Skandale" aus. Jürgen Seifert warnte davor, daß Polizeibeamte "Prügelknaben der Nation" würden, es müsse daher für diesen Berufsstand "ehrenrührig sein, wenn sie zum Knüppel greifen".