Ästhetik des Häßlichen

Michelangelos Geheimnis

Mein Körper ist mir in jeder Hinsicht eine Last, die Körper der anderen sind eine Zumutung. Wären die anderen wie ich, trügen sie schwer an ihren Körpern, und mein Körper wäre eine Zumutung für sie. Es scheint aber so zu sein, daß sie ihre Häßlichkeit sehr leicht nehmen, während sie über meine die Nase rümpfen. Kürzlich sagte mir eine besonders häßliche Person, sie sei besser mit mir zurecht gekommen, als ich noch hübsch war, denn früher konnte sie mich anschauen, und jetzt sei ihr mein Anblick verleidet.

Ihre Ungerechtigkeit fiel ihr nicht auf, weil sie dürr ist und ich fett. Eine besonders groteske Folge des Schlankheitsideals: Der Dürre glaubt immer wieder, daß verschrumpelte, ausgezehrte Gestalten, deren Knochen und Eingeweide an den unmöglichsten Stellen hervorstoßen, ja von einem losen Hautbeutel bloß unordentlich zusammengefaßt werden, und die den unangenehmen Eindruck des Mangels und des Disharmonischen erregen, sich dem Dicken, also doch immerhin Straffen und Abgerundeten, die körperlichen Möglichkeiten voll Ausschöpfenden, überlegen glauben. Der Dicke aber erträgt den Spott ruhig; er ist sich im Gegensatz zu den Spöttern seiner Häßlichkeit bewußt.

Mit der Idee des Schönen ist auch der Platonismus dahin. Werbung und Kino bieten als billigen Ersatz das Hübsche, das aber als endliche und also notwendig unvollkommene Gestaltung doch unbefriedigt läßt. Auch den Hübschen selbst: Als ich hübsch war, war ich unglücklich. Ich glaubte, daß meine Hübschheit mir Zuneigung und Zärtlichkeit eintrüge. Aber als Hübscher ist man doch bl0ß einer von vielen. Die Zuwendung bleibt aus, die Enttäuschung läßt nicht auf sich warten. Ich entschloß mich dann, häßlich zu werden, und das hob meine Stimmung. Denn als Häßlicher erwartet man nichts, kann also auch nicht enttäuscht werden. Man muß freilich mit dem Spott zurechtkommen.

Für Karl Rosenkranz ("Ästhetik des Häßlichen", 1853) zerfiel das Schöne in das eigentlich Schöne, das Negativ-Schöne und das Komische. Das eigentlich Schöne ist bei Lichte betrachtet eine einigermaßen verblasene Idee: der sinnliche Ausdruck der "Freiheit des Geistes". Zuletzt von den Hegelianern gesichtet, ist es seither nicht mehr in freier Wildbahn angetroffen worden. Das Negativ-Schöne, also das Häßliche, kommt einem schon bekannter vor. Rosenkranz beschreibt es als unfrei, zerrissen, formlos, kleinlich, gemein, plump, scheußlich, abgeschmackt, leer. Kurz: Es ist aktuell. Doch in dieser "Hölle des Schönen" kann uns der Dialektiker nicht sitzen lassen. Ihr widersetzt sich deshalb der Spott, die Karikatur, die "entfesselte Ausgelassenheit des Humors, dessen mitleidiger Übermut sich auch der Fratze annimmt".

Wenn schon das Schöne nicht zu haben ist, gelingt es wenigstens dem Humor, sich über das Häßliche zu erheben. Er entschädigt auch für die Hübschheit, die man mit dem Schönen verwechselt hat und nun in eine Fratze verwandelt findet. Ein Freund sagte mir einmal über eine meiner Lieben: "Dein Neuer erschien mir wie ein Engel, aber nur, solange er den Mund nicht aufmachte." Die Sprache als das Negativ-Schöne par excellence entschleiert das Hübsche. So erklärt sich, warum die Skulpturen der Renaissance uns so lange als schön galten: Sie sagen kein Wort. Außerdem plagt sie kein Zipperlein.