54. Beim Doktor

Fortgesetze Erzählungen

Daß Dr. Seignebos aus Wormersdorf stammte (wie der große Dichter Manfred Esser) und auch keine Vorfahren in Nordhessen hatte, war längst geklärt.

Senjebos saß oft bei Kucki, so daß Modder ihm praktisch ins Weinglas spuckte, wenn er aus dem Schlafzimmerfenster guckte. Sie kannten sich, Modder und Kucki, aus alten konkret-Zeiten, wo Kucki vor über dreißig Jahren als Sekretärin gearbeitet hatte. Das Käsblatt war damals noch eine literarisch-politische Tittenpostille mit einer Kolumnistin, die später berühmt wurde und einem Chef, den wir K2R nannten, und Modder schrieb manchmal über religionsgeschichtliche Themen.

Jetzt hatte sie also ein Weinlokal namens Zur alten Wettannahme und einen Griechen namens Chris, der aus Thessaloniki stammte, wie alle linken griechischen Wirte, die ich kenne, und ein Bruder von Ernesti war. Es lagen im Frühjahr 1998 in der Wettannahme folglich immer noch so wertvolle Periodika aus wie die UZ und das ND.

Dr. Senjebos hingegen war stets umgeben von Südstadtschicksen um die Fünfzig, die altersgemäß geschieden, verlebt und immer steil aufgetakelt waren, wo es doch ziemlich stürmisch sein kann in der Kölner Bucht, die wir aus dem Wetterbericht kennen.

"Ich muß Sie mal wieder besuchen", sagte Modder dann, wenn er an Senjebos Tisch vorbeikam. Dabei faßte er sich an die Angina Pectoris oder was ihm gerade einfiel. "Ja, das tun Sie mal", rief Senjebos und Modder wurde ganz blümerant. So kurz vor der Rente noch abnippeln gefiel ihm gar nicht.

Senjebos hielt eine Art Fingernagelknipser in der Hand, an dem Vormittag, von dem ich erzählen wollte, und hielt einen seiner medizinischen Vorträge, die immer darauf hinausliefen, daß es Modder prächtig ging, daß alles nicht so schlimm sei und sterben müßten wir sowieso.

"Meiden Sie Aufregungen!" sagte er väterlich und knipste, während Modder ihm was von Schmerzen hinterm Brustbein erzählte.

"Was für Aufregungen?" sagte Modder. "Abends sitz' ich bei Kucki oder Ernesti, tags hock' ich in meiner Kanzlei, Fernseher hab' ich keinen und meine Eltern sind lange tot. Ich geh' nicht mal spazieren."

Senjebos knipste. "Kein Liebesleben? Keine Frauen, keine hübschen jungen Männer?" - "Only Kölsch and Cigars", sagte Modder. "Das is' es, hören Sie auf zu rauchen."

Er knipste wieder. Neben ihm stand eine hübsche MTA mit einer fliehenden Stirn und einem breiten Hintern. Sie hielt ein nierenförmiges Schälchen in der Hand, in das Senjebos sorgfältig jede einzelne Warze deponierte, die er abknipste. Modder saß mit freiem Oberkörper und zählte mit. Um das zu erklären, muß ich zurückblenden.

Ich komme also rein, wie besprochen, er blickt kurz auf, sagt: "Na, Herr Modjewski, wo fehlt's uns denn heute?", ich sage: "Ich weiß nicht recht", er sagt: "Das hören wir aber gar nicht gerne", und ich greife zu einem Rettungsanker, bildlich gesprochen, und sage: "Sie könnten mir mal wieder diese Dinger veröden" und lasse die Hosen runter.

Er nimmt ein Rohr, Format Wasserleitung, ich knie mich auf den proktologischen Stuhl, was eine Art gynäkologischer Stuhl für Männer ist, er sagt: "So jetzt drücken sie mal kräftig", schiebt mir das Rohr in den After und schaut durch. Ich lausche gespannt seinem forschenden Auge. Er sagt "Puh!" und richtet sich auf.

"Na, wie sieht's aus?" frage ich froh. "Keine besonderen Vorkommnisse. Sie können sich wieder anziehen."

"Ist das alles?" Er nickt. Ich merke schon, daß ich bald gehen muß, aber dann habe ich einen Einfall. "Sie könnten die Warzen entfernen, über die wir letztes Mal sprachen", sag' ich und hoffe natürlich, daß mir in der Zwischenzeit einfällt, was ich sonst noch habe. Er sagt: "Das geht aber nicht auf Kasse, mein Lieber, das müssen Sie selber bezahlen", ich frage: "Wieviel?", "Zwei Mark pro Stück", sagt er, und ich: "Fangen Sie erst mal an. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn mein Geld alle ist."

Senjebos knipste also, und Modder zählte mit, "50, 52, 54" und zwischendurch, wenn der Doktor mal pausieren mußte, weil ihm der Schweiß in die Augen lief, sprach Modder von seinen Organen.

"Was ist mit den dunklen Flecken in meiner Leber? Hab' ich jetzt Leberkrebs, oder ham Sie mal wieder nix rausgekriegt?"

"Keine Sorge, das war blinder Alarm. Die schwarzen Löcher auf den Fotos, die wir für Tumore gehalten haben, sind wahrscheinlich nur die noch nicht verfetteten Reste ihrer Leber, die noch funktionsfähig sind." - "Also noch nicht mal Metastasen?" - "Wenn Sie so wollen!"

Suchend gleitet wieder die Lupe über Modders weißen Leib, nachdem Hals und Brust warzenfrei sind, Modder hebt den rechten Arm und deutet auf eine Kolonie versteckt im Gestrüpp der Achselhöhle prächtig gedeihender Warzen. "Na, das wird teuer", sagt Senjebos, und Modder fängt mit seinen berühmten, subkutanen Versteinerungen an.

"Überall habe ich diese Dinger, am ganzen Körper, auf den Armen, der Brust, dem Bauch, der Innenseite der Oberschenkel. Manche sind erbsengroß, manche so groß wie Haselnüsse. Sind sie sicher, daß das keine Krebsgeschwüre sind?"

"Ganz sicher", sagt Senjebos, "man sieht ja nichts."

Umständlich erklärt Modder, warum man nichts sieht. "Sie sind eingebettet ins Unterhautgewebe, lassen sich aber hin- und herschieben wie die Eier im Hodensack. Da fühlen Sie mal", sagt er und erobert die zarte Hand der MTA. Ängstlich gleiten ihre gepflegten Fingerspitzen über eine walnußgroße Geschwulst hinter seinem rechten Ellenbogen und entfernen sich rasch mit großen Augen, in denen sich das Erschrecken am Es abzeichnet.

"Was ist", sagt Senjebos, "Sie sehen aus, als hätten sie eine Kröte angefaßt." Das Mädchen seufzt: "Sie sind wirklich riesig, die Dinger."

Danach redet man ein Weilchen über Modders letzte Zuckerwerte, die zu hoch sind, seinen Magnesiummangel, der auch vom Alkohol kommt und bewegt sich langsam runter zur Prostata. "Nachts fünfmal raus", sagt Modder, "und immer dieses Brennen in der Harnröhre, sogar wenn ich mir einen runterhole."

"Hören Se auf, Sie wollen bloß wieder, daß ich Ihnen den Finger in den Hintern schiebe. Wann habe ich Ihnen zuletzt den Finger reingeschoben? Wann war das?"

"Vor gut zwei Monaten, aber ich fürchte, Sie sollten das Ding trotzdem mal wieder abtasten." Modder steht auf und läßt wieder die Hose runter. "Kommt nicht in Frage", dekretiert Senjebos, "ich verschreib' Ihnen was andres, und damit basta."

Dann zählen sie wieder. Schnippschnapp, schnippschnapp. Bei 150 Mark sagt Senjebos: "So, jetzt ist Schluß, den Rest schenk' ich Ihnen", aber dann gewährt er Modder doch noch eine Abschiedsdemonstration. Draußen im Wartezimmer stapeln sich zwar schon die sterbenden Gäste, aber das muß jetzt sein, das ist der Vorteil, wenn man einen Freund hat.

"Schauen Sie her", sagt er "ich zeige Ihnen, warum Sie manchmal diese Herzstiche haben, nachts, wenn Sie aufwachen." Er geht ins Nebenzimmer und holt ein mannshohes Skelett, läßt die Knochen lustig klappern und fährt mit dem Finger über die Rippen.

"Da sehen Sie", sagt er, "das ist alles nicht fest verbunden. Das baumelt alles lose in der Luft und nachts, wenn Sie liegen, ganz klar, daß sich durch das Gewicht Ihres Körpers, der sowieso viel zu schwer ist, wenn Sie auf der linken Seite liegen, ein paar spitze Knochen in ihren Herzbeutel schieben. Aber deshalb braucht man sich doch keine Sorgen zu machen. Wissen Sie was? Entweder Sie sind ein Hypochonder oder ein Simulant oder beides. Leben Sie wohl, bis heut' abend."

Traurig und abgeschlafft überquert Modder die Straße. Vor Kuckis trifft er Kucki, die vom Gemüseladen kommt. "Na, wie war's" - "Er hat mal wieder nichts gefunden." Sie streichelt seine Hand und versucht, ihn zu trösten. "Macht doch nichts, du wirst schon was haben. Die Ärzte können auch nicht hellsehen."

An dieser Stelle fehlen jetzt noch einige Bemerkungen über den rätselhaften Zeitstillstand seit Anfang der achtziger Jahre, aber das besprechen wir ein anderes Mal. Damit gehen wir lieber zum Psychiater.

Nächste Woche: "Fußnote zu Kapitel eins"