Alle Meisen sind schon da

Im letzten Jahre ausgeblieben, ist Wolfgang Müllers Blaumeisenbuch jetzt eingetroffen

Zur Buchpremiere war ich vor genau zwölf Monaten nach Reykjavik gereist. Autor Wolfgang Müller und Verleger Martin Schmitz empfingen die Gäste und luden zu einer Vogelexkursion auf die der Hauptstadt nördlich vorgelagerte und ein Sonderzeichen erfordernde Insel Videy ein. Das Eiland erwies sich als menschen- und vogelleer. Blaumeisen - global: Blue tit - gab es nicht, auch nicht, wie wir anschließend erfuhren, das angekündigte Buch.

Die Fahrt hatten wir aus lauter Begeisterung und Liebe zur Sache selbst bezahlt. Immerhin fanden wir abends die berühmte Örv3/4ntingarsœlan, die Verzweiflungssäule, im Szenetreffpunkt "22". Dort erklärten Wolfgang Müller und Martin Schmitz 1. die strategische Bedeutung des Holzbalkens: "Von dort aus kannst Du alles erblicken, was im Laden geschieht - und alle können Dich dabei beobachten" sowie 2., daß das Buch nicht erscheine, weil der Transfer der Sonderzeichen scheitere. Erschienen war allerdings mittlerweile der Gewinner des Eurovisionsschlagerwettbe

werbs Irland 1997, der schwule Popstar P‡ll îskar Hj‡lmtysson, und gab mir an der strategischen Säule aus lauter Begeisterung und Liebe zur Sache ein schönes Autogramm (1).

Ich berichte das alles, um jetzt, wir haben September 1998 und das Buch ist endlich da, mit aller Autorität die Richtigkeit des Gedruckten beglaubigen zu können. Ja, es stimmt, die Blaumeise, der Vogel im blau-gelben Federkleid, kommt in Island nicht vor, doch sind seine Farben die der F.D.P., und die kommt bei uns nur mühsam vor, wodurch sich mein Sohn Detlef Kuhlbrodt, oder ist es mein Neffe, offenbar aus ökologischen Gründen zu seinem berühmt-berüchtigten taz-Artikel "Jetzt erst recht: F.D.P." hinreißen ließ (2).

Ja, liebe blaugelbe Partei, "nur Meisen sind schöner" (Wolfgang Müller), und die sind außerdem ein prima Wahrnehmungsmodul, um sich zu reterritorialisieren, deflexibilisieren, deglobalisieren und all das, wenn Sie wissen, was ich meine (3).

Jedenfalls finden wir im tiefsten Zehlendorf unsere Meisenheimat, wenn wir gucken, wo der wohnt, der Charlotte von Mahlsdorf das Bundesverdienstkreuz verliehen und außerdem zehn Jahre lang der Bundesrepublik präsidiert hat: Richard von Weizsäcker, Meisenstraße 6 in 14195 Berlin (4). Tag, Nachbar, befreit Sie das Blaumeisenbuch nicht von lästigen Kontexten und zwanghaften Repräsentationen?

Freilich muß man ein wenig nach Island fliegen (2 380 km), um den 17. Juni als Tag der Befreiung von Dänemark zu feiern (1944: Austritt aus der Union) oder aber um in einer künstlerischen Parallelaktion den in Reykjav'k am Fr'kirkjuvegur Ecke Skothœsvegur aufgestellten Berliner Bären gründlich zu verpacken (5). Denn so eine Skulptur, die die Verbundenheit der Hauptstädte demonstrieren sollte, hat ja nichts mit den alltäglichen und sehr unterschiedlichen Bedürfnissen von Menschen zu tun, die vielleicht S-Bahn surfen wollen und sich fragen, wie das

in Island geht, wo es weder S-, U-, noch Eisenbahn gibt. Was nun?

Das Blaumeisenbuch erweitert den Horizont resp. regt dazu an, in der Berliner Heimat neue Betätigungsmöglichkeiten zu eröffnen, indem auf die Praxis des ç¶ liggja ‡ götunni verwiesen wird, was als Liegen auf der Straße zu übersetzen ist. In der Meisen- oder sonst einer mäßig befahrenen Straße legen sich zwei Leute mit dem Bauch auf die Fahrbahn und warten auf das nächste Auto. Kurz bevor es die Körper erreicht, rollen sie sich seitwärts an den Straßenrand. Wer am längsten liegenbleibt, hat gewonnen. Kriminalkommissar Steingrimmur: "Wir wollen nicht hoffen, daß dieses makabre Spiel viele Nachahmer findet!" (6)

Ich hoffe, durch diese Beispiele den Leser behutsam zur Überzeugung geführt zu haben, daß ihn mit BLUE TIT eine sorgsam edierte, wissenschaftlich fundierte, dabei unterhaltsame und auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Alltagsphänomenologie und -ethnographie der isländischen Parallelgeneration erwartet (7). Das Buch, fest gebunden, ein echtes Hardcover, nimmt sich wie eine zur Dauerbenutzung bestimmte Enzyklopädie in die Hand. Die 288 Seiten haben ein angenehmes Gewicht. Die Hälfte macht die Übersetzung ins Isländische aus, wobei der Text wegen der eindrucksvollen Sonderzeichen gute Figur macht. Dem enzyklopädischen Charakter entsprechend sind die Textbeiträge alphabetisch organisiert, reich und bunt bebildert und außerdem noch durch ein detailliertes Register erschlossen, wovon ich mich durch Stichproben überzeugt habe.

Einige Texte sind bereits zuvor veröffentlicht worden. Die Leser der taz werden es begrüßen, sie jetzt zwischen

strapazierfähigen Buchdeckeln wiederzufinden. Sie gewinnen im enzyklopädischen Kontext buchstäblich Gewicht. Unter dem Stichwort çlfar, Elfen ist das definitive, 1995 in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte Interview mit Erla Stef‡nsd-ttir, der Reykjav'ker Elfenbeauftragten, nachzulesen, von deren Votum das Bauamt die Trassierung von Wegen und Straßen abhängig macht, um im Gefels wohnhafte Elfen nicht zu gefährden (8), wobei wir erfahren, daß Elfen, soweit sie klein und schmal sind, sich durch rötliches Haar und Bürstenhaarschnitt auszeichnen (9).

Wolfgang Müller, in den achtziger Jahren Mitglied der Performancegruppe Die tödliche Doris, ist seit 1990 jährlicher und gern gesehener Gast in Island, gut Freund mit Pop-P‡ll und dem Staatspräsidenten, îlafur Ragnar Gr'msson, welcher ihm alles darüber erzählte, wieso Island als erster Staat das unabhängig gewordene Estland anerkannte.

Daß der Generalsekretär der linken Volksallianz, Heimir M‡r (10), der zweite war, der unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit von der Möglichkeit schwuler Eheschließung Gebrauch machte, erfuhr ich voriges Jahr von ihm selbst an der Verzweiflungssäule, aber auch, daß er, wie er mir stolz versicherte, der erste sein werde, der die schwule Scheidung betreiben werde. Lassen Sie mich jedoch, um nicht tragisch zu enden, das unter dem Stichwort Yvonne zu findende Couplet von Andreas Dorau zitieren, genauer den anheimelnden Schlußvers der Blaumeise Yvonne (11):

Yvonne, Yvonne, ich hab' dich gerne /

pfeif' sogar auf Ruhm und Geld, /

bring' dir Mehlwürmer und Kerne /

du, du bist jetzt meine Welt. /

lala lalala /

alle Meisen sind schon da! /

Auf den Eiern will ich sitzen, /

laß mich in den Kasten rein./

Wenn die Eier sich erhitzen, /

sind wir nicht mehr so allein. /

lala lalala /

alle Meisen sind schon da!

Wolfgang Müller: BLUE TIT: Das deutsch-isländische Blaumeisenbuch. Ins Isländische übertragen von Veturlidi Gudnason. Verlag Martin Schmitz, Kassel und Berlin 1997, 288 S., DM 56

(1) Wolfgang Müller a.a.O. S. 169 ff.

(2) Wolfgang Müller a.a.O. S. 219 Fußnote 1

(3) vgl. dKuhlbrodt@compuserve.com

(4) Wolfgang Müller a.a.O. S. 195 Fußnote 3

(5) Wolfgang Müller a.a.O. S. 132 Fußnoten 2 bis 4

(6) Wolfgang Müller a.a.O. S. 249

(7) bei Wolfgang Müller a.a.O. S. 86 hätte "Souvenier" anders geschrieben werden müssen

(8) Wolfgang Müller a.a.O. S. 65 Fußnote 2

(9) Wolfgang Müller a.a.O. S. 68

(10) Wolfgang Müller a.a.O. S. 180

(11) auf der CD "70 Minuten Musik ungeklärter Herkunft", Hamburg 1997, nicht enthalten