Demokratische Straße

Kann es eine egalitäre Kunst geben? Zu den Fotografien von Helen Levitt

Um zu einer demokratischen Kunst zu kommen, muß das Autor-Prinzip verschwinden. Solange noch der Autor spürbar ist, wird es einen bevorzugten Blickwinkel, ein Gefälle zwischen Standpunkt und Objekt geben, eine Hierarchie, in welcher jenes vom Leser oder Betrachter oder Hörer vorgestellte Autor-Subjekt, das die ästhetischen Entscheidungen zu treffen scheint, hoch über dem Dargestellten rangiert.

Es mag wenig glaubwürdig sein, daß den Künstlern daran gelegen sein könnte, als Autoren abzudanken. Und doch gibt es Werke, die eine solche Intention nahelegen. Helen Levitts Fotografien gehören zu ihnen.

Man sieht auf den meisten ihrer Schwarzweiß-Aufnahmen aus den dreißiger und vierziger Jahren Kinder auf den Straßen der ärmsten Viertel New Yorks. Die umhertollenden, sich nekkenden, raufenden, schmollenden, sich streichelnden, auf Balustraden oder Bäume kletternden, verkleidet voreinander posierenden, flirtenden Kinder und Jugendlichen sind mit einer Beiläufigkeit, ja Nonchalance skizziert, die der europäischen Fotografie fremd ist.

Immer auf Augenhöhe der Porträtierten, scheint die Kamera meist unbemerkt zu bleiben oder gar Teil des Spiels zu sein; sie erfaßt die Bewegung, weil sie Teil der Bewegung ist. Dabei bleiben Komposition, Gestaltung zurückhaltend, fast zufällig, Unschärfe scheint eher in Kauf genommen als einkalkuliert zu sein. Aus dieser Werkphase stammen auch Aufnahmen von Pflastergemälden, Kritzeleien, Artefakten der Straße.

Hinter all diesen so informell wirkenden Bildern könnte selbst ein besonders subtiler Formalismus stehen: der des Realismus. Aber auch auf die dem realistischen Genre eigene Thematik wird verzichtet: keine Enthüllung, keine Anklage, kein Sitten- oder Charakterbild, keine Studie, nicht einmal Dokumentation.

Nicht nur das Pathos des Künstlers, auch das Interesse des Wissenschaftlers fehlt, so daß manchmal der Eindruck entsteht, der Autor selbst sei verlorengegangen oder habe sich einfach vergessen, die Objekte seien in ihr Recht gesetzt, hätten sich selbst ihren ihnen gemäßen Ausdruck gesucht, hier regiere die demokratische Kunst: von allen, für alle, über alles.

Das ist ein seltener und angenehmer Eindruck. Er wird von anderen Aufnahmen konterkariert, die den Einfluß Henri Cartier-Bressons verraten. Ihn hatte Levitt 1935 in New York kennengelernt, an ihm hat sie sich orientiert. Das sinnbildhaft Arrangierte eines Vaters mit Kind vor Mülltonnen; eines dunklen Mädchens mit Lilie; einer schwangeren jungen Frau neben einer anderen, die sich Milchflaschen vor den Bauch hält: Hier bringt sich leider in Erinnerung, wie idyllisierend, ja abgeschmackt Cartier-Bressons anekdotische Weise, Augenblick und Gestaltung zur Übereinstimmung zu bringen, heute wirkt. Wenn sie in diesen frühen Arbeiten komponiert, erreichen Levitts Fotografien weder die gelassene Meisterschaft Eugène Atgets noch die Intensität Walker Evans'.

Etwas anders verhält es sich mit den Farbfotografien, die zwischen 1959 und 1980 entstehen (nach einer Rückkehr zur Schwarzweißfotografie, arbeitet die heute 85jährige inzwischen auch wieder in Farbe). Noch immer sind es - wie es im Vorspann zu dem gemeinsam mit James Agee und Janice Loeb produzierten Kurzfilm "In the Streets" heißt - "die Bühne und das Schlachtfeld" Straße, die Levitt fesseln. Aber die Motive sind in dieser Zeit viel bedächtiger gewählt, die Kamera ist nicht mehr Teil des Geschehens.

Levitt setzt häufig ein leichtes Teleobjektiv ein, die Farbeffekte sind geschickt aufeinander bezogen. Sie hat eine Vorliebe für Rottöne: eine gesprenkelte Katze unter einem rotlackierten Schrottauto; ein Hahn mit geschwollenem Kamm neben einer 7up-Werbung und einem Kaugummiautomaten; eine ältere Dame, die einen Hut mit rotem Band trägt, über einem Ensemble von Kaugummiautomaten und einer Coca-Cola-Werbetafel.

Einige dieser Alltagsnotizen, die eine entspannte, aber nicht gleichgültige Haltung gegenüber dem Schmutz der Straße zeigen, haben mich an die fotografischen Gemälde William Egglestons erinnert, der einen seiner Fotobände "The Democratic Forest" nannte. Demokratisch mag seine Motivwahl sein, aber seine ausgesuchten Arrangements und seine Menschenscheu verweisen doch auf eine aristokratische Attitüde, die einer demokratischen Kunst Hohn spricht und die Helen Levitt vollständig abgeht. Wenn sie auch für ihre Farbaufnahmen eine mehr reflektierende, strengere, vielleicht auch starre Ästhetik bevorzugt, so bleibt doch auf diesen Bildern ihre Sympathie für die Menschen auf der Straße unverkennbar.

Es ist eine egalitäre Grundhaltung, die dem noch immer von 19.-Jahrhundert-Idealen beherrschten europäischen Künstler unerreichbar ist. Ob er sie erreichen sollte, ist eine andere Frage.

"Helen Levitt. Photographien". Festspielgalerie Berlin, Budapester Straße 48, noch bis 4. Oktober, täglich 10-18 Uhr.

Ab 22. Oktober ist die Ausstellung im Museum Villa Stuck in München zu sehen. Der Katalog kostet in der Ausstellung 29 Mark