Iran macht mobil

An der iranisch-afghanischen Grenze stehen sich fast 300 000 bewaffnete Gotteskrieger gegenüber

Was hat die Hansestadt Rostock mit dem islamischen Taliban-Staat Afghanistan gemeinsam? Die Parole "Ausländer raus" ist zur Zeit sowohl an der deutschen Ostseeküste als auch rund um Kabul ziemlich angesagt. Bis auf Mitarbeiter der Uno und der internationalen Hilfsorganisationen (die schon längst alle gegangen sind) sowie Diplomaten hätten Ausländer das zentralasiatische Land umgehend zu verlassen, forderte die Taliban-Regierung am vergangenen Wochenende.

Fast gleichzeitig demonstrierten Hunderttausende im westlichen Nachbarstaat Iran. Fotos von Ruhollah Khomeini und Ali Khamenei - erster frühere, zweiter aktuelle Nummer eins der iranischen Theokratie - wurden hochgehalten, man erklärte sich für den "heiligen Krieg" bereit und skandierte "Tod den Taliban, Tod Israel und Tod den USA". Die Bilder aus Teheran erinnern an die Demonstrationen aus den Jahren 1978 und 1979. Nur protestierten damals die fanatisierten Massen gegen die Schah-Diktatur und gegen den "westlichen und den sowjetischen Imperialismus".

Dieses Mal richtet sich der Haß der Bevölkerung gegen die afghanischen Taliban. Und dort findet er sein Echo: Ein hoher Taliban-Funktionär rief am letzten Freitag ebenfalls zum "heiligen Krieg" auf. Gegen die "Tyrannen" im Iran natürlich. Doch die Mullahs in Kabul setzen auch auf Taktik. Mit der Freilassung von fünf gefangenen Iranern signalisierten sie nur einen Tag später nach Teheran, daß ein Krieg abgewendet werden könne. Weitere 40 iranische Geiseln würden umgehend freigelassen, sobald der Iran die mittlerweile mehr als 250 000 Soldaten - die Mehrheit davon wird von den Khamenei-treuen Pasdaran (Revolutionswächter) gestellt - von seiner Grenze zu Afghanistan wieder abziehen würde. 30 000 nicht minder gerüstete Taliban-Kämpfer, die während der letzten beiden Wochen im Westen Afghanistans Stellung bezogen haben, würden dann wohl ebenfalls den Heimweg antreten.

Die Beziehungen der beiden Staaten könnten wieder so harmonisch werden, wie sie es einst waren: Als die Sowjetunion im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierte, sammelten Anhänger der iranischen Hisbollah (Partei Gottes) in allen iranischen Städten und Dörfern Geld zur Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die gottlosen Russen. Als in Afghanistan der dem Etikett nach kommunistische Staatschef Muhammed Nadschibullah 1992 zurücktrat und der Tadschike Burhanoldin Rabbani zum Präsidenten gewählt wurde, applaudierten die iranischen Glaubensgenossen. Auch die im September 1996 erfolgte Hinrichtung Nadschibullahs durch die etwas übereifrigen Taliban löste in Teheran keinen Ärger aus.

Erst im Oktober desselben Jahres kam es zum Bruch. Der religiöse Führer des Iran, Khamenei, kritisierte die Taliban und sprach sich für einen "Hohen Rat zur Verteidigung Afghanistans" aus, der sich aus pro-iranischen Politikern und aus den Schiiten-Milizen Wahdat und Ismael Khan zusammensetzen sollte. Die antisowjetische Front der Mudschaheddin war längst gespalten.

Zwar kam es nach den US-Raketenangriffen auf Stützpunkte des von den Taliban verstecken Terroristen Ussama Bin Laden im August noch einmal zu gemeinsamen Protesten, denen sich auch Pakistan anschloß. Doch ist der Haß auf die USA zur Zeit wohl das letzte Bindeglied. Darüber können auch Be-kundungen des "grundsätzlichen Friedenswillens unter Muslimen" aus Teheran und Kabul nicht hinwegtäuschen.

Zu weit sind die Interessen der beiden Staaten auseinandergerückt: Unterschiedliche ökonomische und politische Optionen vermischen sich mit den jeweiligen innenpolitischen Problemen und geostrategischen Erwägungen. Hinzu kommen konfessionelle Differenzen und das Ausspielen der ethnischen Karte. Mit der Ermordung von neun iranischen Diplomaten (Jungle World, Nr. 38/98) und Tausenden von schiitischen Hazaras in Afghanistan haben die Taliban dem Iran einen Vorwand für eine Militärintervention geliefert.

Der iranische Präsident Mohammad Khatami, dessen Regierung von der orthodoxen religiösen Führung um Khamenei von einer politischen Krise zur nächsten gedrängt wird, begründete die militärischen Aktivitäten Irans entsprechend: "Ethnische Säuberungen" an den traditionell pro-iranischen Hazaras gelte es künftig zu verhindern. In der afghanischen Stadt Bamjian schnitten im August Taliban-Krieger mehreren Tausend Hazaras die Kehlen durch oder hackten ihnen die Hände ab. An diesem Gemetzel sollen nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen auch Kämpfer der paramilitärischen Gruppe Sipah-i-Sipah aus Pakistan beteiligt gewesen sein.

Doch die eigentlichen Gründe, lukrative Transitgebühren für geplante Pipelines und die Frage, wer denn die Hegemonialmacht der Region ist, werden so überdeckt. Pakistan und Iran machten noch vor wenigen Monaten friedliche Miene zum bösen Spiel und sprachen davon, die verfeindeten afghanischen Clans versöhnen zu wollen. In Wirklichkeit versuchten beide Staaten die verschiedenen afghanischen Gruppierungen zu instrumentalisieren. Pakistan wählte dabei die richtigen Bündnispartner, die Taliban, die sich mittlerweile in 29 der 32 Provinzen Afghanistans militärisch durchgesetzt haben. Und mit der pakistanischen Atombombe bedroht die Achse Islamabad/Kabul nun die Vormachtstellung des Iran in der Region.

Doch auch der Iran weiß Nutzen aus der Konfrontation zu ziehen. Der UN-Sicherheitsrat mußte letzte Woche einräumen, daß die iranischen Vorwürfe gegen die Taliban berechtigt waren. Und die internationale Diplomatie hofiert den Iran, der bislang weitgehend isoliert war, wie nie zuvor. Eine Krisensitzung brachte Anfang dieser Woche auf hoher diplomatischer Ebene Iran, Afghanistan, Rußland, Tadschikistan, Usbekistan, Turkemenistan und Pakistan an einen Tisch - zusammen mit den USA und China. Damit haben erstmals nach einer zwanzigjährigem Sendepause iranische und US-Politiker gemeinsam beraten. Bis Redaktionsschluß blieb aber offen, ob, wie schon so häufig, auch dieses Mal auf eine Friedenskonferenz unmittelbar ein Krieg folgt.