Wo ist das schizophrene Gen?

In Jena treffen sich am Wochenende Vertreter der Biologischen Psychiatrie und versuchen, psychische Krankheiten genetisch zu erklären. Betroffenenverbände mobilisieren dagegen

"Human Genom Project" heißt der zentrale Festvortrag auf der Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie, die vom 1. bis 3. Oktober in Jena tagt. Festredner André Rosenthal ist Sprecher des Instituts für molekulare Biotechnologie in Jena - dem führenden Unternehmen im deutschen Human-Genom-Geschäft, und einem der weltweit wichtigsten.

Rosenthal wird in Jena ein Heimspiel absolvieren können: Seine wissenschaftliche Anhängerschaft will schließlich wissen, wie's ausschaut an der vom Spiegel als "Krieg um die Gene" bezeichneten Front um die Genforschung im allgemeinen - und die am menschlichen Erbgut im besonderen.

Organisiert haben sich die führenden Gentech-Staaten unter dem harmlos klingenden Namen Hugo (Human Genome Organization). Die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Japan teilen seit Mitte der achtziger Jahre die Pfründe und die Arbeit unter sich auf. Beabsichtigtes Ziel: die Entschlüsselung von etwa 70 000 menschlichen Genen.

Zwar noch weit abgeschlagen hinter der staatlichen Humangenomforschung in den USA und Großbritannien, der mehr als das Sechsfache des bundesdeutschen Etats zur Verfügung steht, belegt die BRD bei der staatlich finanzierten menschlichen Genomforschung immerhin noch den dritten Platz.

Doch der Markt verändert sich: US-amerikanische Privatkapitalisten, so hysterische Berichte in der Fachpresse, bringen den Staatenbund in Zugzwang. Zwar hatte die Pharma-Industrie (drittgrößte Kraft: Hoechst) gentechnologische Forschungsinstitute schon in letzter Zeit verstärkt gefördert, aber die Vergabe von Steuergeldern an Universitätseinrichtungen unterstand doch immer noch der bürokratischen Kontrolle des Staates.

In den USA machen nun zwei private Unternehmer mit Forschungsprojekten am menschlichen Genom den staats- und universitätsabhängigen Instituten Konkurrenz. In den Markt der Verscherbelung menschlicher Erbanlagen ist Bewegung gekommen, der Run auf die Patente hat neu begonnen. Unter den Hugo-Partnern breitet sich Panik aus.

"Ab sofort gilt nur noch Schnelligkeit", beschrieb eine Spiegel-Titelgeschichte vor vier Wochen die Hysterie der staatlichen Forscher: Nicht nur, daß die beiden privaten US-Projekte die besseren und teureren Forschungsanlagen besäßen, beklagten sich die Hugo-Experten. Auch seien die Privaten allein an der verkaufstechnischen Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse interessiert. In spätestens drei Jahren wollen die US-Forscher das menschliche Genom zu 99 Prozent entschlüsselt und erforscht haben. Das macht das Jammern der Hugo-Forscher verständlich: Sie veranschlagen für die Erforschung des Humangenoms zehn bis fünfzehn Jahre.

In Großbritannien wurde daraufhin der Etat für das Sanger Centre, das mit Abstand größte europäische Human-Gen-Labor, verdoppelt. Unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl kann man davon ausgehen, daß nun auch dem thüringischen Forschungsbetrieb ein satter Zuschlag gewährt wird.

Vor diesem Hintergrund findet in Jena der für uneingeweihte Zeitgenossinnen und -genossen eher unauffällige Kongreß für Biologische Psychiatrie statt. Nichtmedizinern dürften die Jenaer Tagungsthemen größtenteils unverständlich bleiben: "Ereigniskorrelierte Potentiale und klinische Response auf Serotonin-Agonisten bei affektiven Psychosen", "Loreta-Tomographie des hirnelektrischen Feldes bei akuten nichtbehandelten Schizophrenien", "In vivo-Challenge-Strategien und Functional Brain Imaging zur Untersuchung der Funktion und Interaktion von Neurotransmitter-Systemen in der Psychiatrie".

Am schlichtesten wirken die Ankündigungen der Vorträge mit wirklicher Brisanz - Zeichen von Schwäche oder Stärke? "Genetische Befunde bei Lese-Rechtschreib-Schwäche" - das versteht auch, wer nicht zehn Jahre Medizin an der Uni gebüffelt hat, ebenso den Titel "Aktueller Stand der genetischen Forschung bei Schizophrenie".

Gerade der letztgenannte Vortrag, aber auch Ambiente und Hintergrund der geplanten Jenenser Veranstaltung, haben mittlerweile in der Betroffenen-Szene für Furore gesorgt. Proteste und eine Gegenveranstaltung sind geplant. Wie Anfang der neunziger Jahre bei Auftritten des australischen "Bio-Ethikers" Peter Singer, steht den Kongreßtänzern und -tänzerinnen Ärger ins Haus.

Es gibt viele Verbündete gegen den Jenenser Kongreß und seine Hintergründe, doch die werden weitgehend nicht zitiert und sichtbar sein. Das Spektrum reicht von Horst-Eberhard Richter über Wolf-Dieter Narr, Dietmar Kamper, Klaus Dörner, Peter Kruckenberg bis Gerburg Treusch-Dieter.

"Absurd", sagt Treusch-Dieter, sei der ganze Kongreß eigentlich, ebenso die Nützlichkeitserwägungen der "Moderne". Es solle zwar keine Zensur ausgeübt werden, aber "das Nichtvertretbare" sei dieses "positivierte Menschenbild": keiner darf krank, darf anders sein. Die Soziologin mit Lehrstühlen in Berlin und Linz erinnert im Gespräch mit Jungle World an die bescheidenen Ansätze einer Anti-Psychiatrie in der BRD zu Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre. "Es findet jetzt ein Paradigmenwechsel statt", sagt sie, und da sei mehr als Vorsicht geboten.

Mit deutlichen Worten ruft der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg zum Protest auf: "Verflucht sei dieser Kongreß!" - "Das Ku-Klux-Klan-Treffen der Erbhygieniker" ist ihr Flugblatt überschrieben. "Wer heute die Kandidaten-Gene von 'Schizophrenie' präsentiert, hätte damals die Nasen von Juden vermessen." Sprecher Renée Talbot, von Beruf Bootsbauer und studierter Philosoph und an der Berliner Zeitschrift Die Irren-Offensive beteiligt, ist zuversichtlich: "Wir werden es denen schwermachen."

Talbot gehörte - neben Kate Milett (USA), Hagai Aviel (Israel) und vielen anderen - zur Jury des Internationalen Foucault-Tribunals, das Ostern 1998 in Berlin stattfand und wieder frischen Wind in die Psychiatrie-Landschaft der BRD brachte. Das Urteil des Tribunals, das in Anlehnung an die Russell-Tribunale gegen den Vietnam-Krieg und die Berufsverbote-Praxis in der BRD ins Leben gerufen wurde: Psychiatrie sei immer noch Ordnungspolizei, Einsperren, Psychopharmaka. "Wir stellen fest, daß die Psychiatrie, die nicht bereit ist, Zwang und Gewalt aufzugeben, sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat: der vorsätzlichen Zerstörung von Würde, Freiheit und Leben."

Die fortschrittsgläubige Eile der Genom-Anbeter ist für viele Praktiker insbesondere aus dem Spektrum der Sozialen Psychiatrie nicht nachzuvollziehen. Ein Prozent der hiesigen Bevölkerung, so ein Hamburger Universitätsarzt gegenüber Jungle World, sei - unabhängig von der jeweiligen Einschätzung der Forschung - schizophren gewesen oder geworden, und auch die bisherigen Ergebnisse der Genomforschung können nur einen Bruchteil davon als "vererbbar" belegen: "Was sind die Konsequenzen? Soll man diese Leute alle ausrotten?"

Beinahe überflüssig zu erwähnen, was den Gentech-Fans aus dem Psychiatrie-Gewerbe im Rahmenprogramm des Kongresses noch geboten wird: Da gibt es Fahrten zu den Dornburger Schlössern oder ins Optische Museum nach Jena und sogar einen Gesellschaftsabend. Der findet statt im Weimarer Hotel "Elephant" - gespickt mit "Überraschungen aus der Goethe-Zeit".

Eine Fahrt nach Buchenwald steht nicht auf dem Programm. Und erwähnt wird auch nicht, daß das "Elephant" Adolf Hitlers Lieblingshotel war.

Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie, Jena, Friedrich-Schiller-Universität: 1. bis 3. Oktober, Jena, Fax 036 41 / 66 40 77, Tel. 036 41 / 66 40 76. Das Gegenprogramm zum Kongreß findet im Sozialen Zentrum in Jena statt (Fax 030 / 782 89 47).