56. Waldstück

Fortgesetzte Erzählungen

Rund 450 Jahre später erklimmt in Hofacker auch Frl. Pfeufer das Closettbecken, da sie von hier aus die schönste Aussicht hat, und schaut aus dem Badezimmerfenster. Draußen ist nichts zu sehen. Eine Wiese, ein paar Zäune, ein Waldrand.

Schwungvolle Bögen in Weiß wirft ein geschotterter Feldweg ins Grün der satten Matten, ist bald nur noch anhand beidseits der Raine wachsender Obstbäume erahnbar und könnte hinten im Wald verschwinden. Ein Fahrzeug wäre ein nützlicher Anhaltspunkt, um seinen Verlauf in der oberen Bildhälfte zu beschreiben.

Ich muß erklären: Die Villa Rosenberg steht an einem Hang, und Frl. Pfeufer blickt hinunter ins friedvolle Tal. Frl. Pfeufer ist 78, ein Adlerauge und flink wie ein Äffchen. Sagt jemand versehentlich Frau zu ihr, ein Ortsunkundiger, der UPS-Mann zum Beispiel: "Sind Sie Frau Pfeufer?", so herrscht sie ihn an. Grimmig entschlossen, ihre kaum verletzte Jungfräulichkeit bis ins Grab verteidigen:

"Fräulein Pfeufer, mein werter Name."

Soviel zur momentanen Topographie, die sich leicht ändern kann, hat sich das Städtchen doch auch seit unserer Jugend furchtbar verändert. Sie verstehen:

Eisdiele Cortina, Pizzeria Napoli, Solarium Lido Odil, Umgehungsstraße, Fitneß-Center Body 2000, Fußgängerzone, Videothek Olala, Naturkostladen Vita verde, Schulzentrum an der Ilse, Disco Magma, Baumarkt OBI und der freundliche Supermarkt auf der grünen Wiese, Carmens CD-Lädchen, Ottos und Lisas Singletreff, support your local dealer, Mülltrennung, und das Kaufhaus Rosenberger, das der alte Pfeufer 1938 arisiert hat, ist heute ein beliebter Abfüllschuppen namens Irish Pub.

Ein anderes Beispiel für raschen Szenenwechsel: Der Teekessel pfeift oder man klingelt an der Haustür. Frl. Pfeufer öffnet, der USP-Mann sagt: "Ich habe hier ein Päckchen", und sobald sie wieder auf der Closettbrille balanciert, steht auf der drübigen Anhöhe ein Mast, um den Fernsehempfang zu verbessern.

Trassen lassen zukünftige Bauplätze erkennen, Baugruben sind ausgehoben, Fundamente gegossen und hier und da mauert man schon am Giebel. Um die Weihnachtszeit ist der Waldwinkel eine begehrte Wohnlage. Würziger Rauch stiege zum Abendhimmel, von Grillfeuern genährt, wenn Sommer wäre. Aber das sind Träumereien meines alten Kumpels Hüppi, der so ziemlich alles vertritt. Auch eine Bausparkasse und riskante Wertpapiere.

So kann's gehen, wenn man mal nicht aufpaßt, wie Frl. Pfeufer eben. Sie erkennt jetzt einen schwarzen Fleck etwa zehn Meter rechts neben dem Bachlauf, der ebenfalls nicht als solcher, sondern nur als unregelmäßige Kette von Weidenbäumen erkennbar ist. D 6 schätzungsweise, bei einem Raster von zwölf waagrechten und neun senkrechten Planquadraten.

Soll sie den väterlichen Feldstecher beiholen? Ich rate ab. Es lohnt nicht. Der Voyeur ist ein einsamer Jäger und kriegt selten was vor die Flinte. Auch diesen schwarzen Fleck können wir ihr erklären. Eine Katze vielleicht, die etwas belauert. Ich erfinde ihr einen Maulwurf an der Grenze zu D 7. Die Katze lauert unbeweglich, doch ein Wimpernschlag reicht, und schon scheint sie sich bewegt zu haben. E 6, würde ich sagen, wo aber kein Maulwurfshügel zu erkennen ist. Gegenstände dieser Größenordnung sind überhaupt nicht zu erkennen.

Aber hat sie sich wirklich bewegt? Zeigt die nicht sichtbare Bewegung der Gräser im Abendwind sich womöglich in einer minimalen Unschärfe der Ränder des Gegenstandes, die eine minimale Ortsveränderung suggeriert, wie das zeitlupenartig verlangsamte Sichanschleichen einer Katze?

Frl. Pfeufer hat auf einmal das ungestüme Bedürfnis, sich zu rasieren. Sie rasiert sich sonst nie, hat aber eine sakrosankte Erinnerung an ihren Vater. Er steht vorm Spiegel, das Gesicht voll Schaum, sie betrachtet ihn andächtig, sie ist etwa fünf Jahre alt und trägt seine Offiziersmütze auf dem Kopf. Er wetzt das Messer, setzt es ans Kinn und auf einmal schneidet er sich tief in die Kehle.

Blut pulsiert aus der breiten Wunde, ein dünner Strahl, der im Waschbecken landet, und schon ist alles eingesaut. Später wird der Vater ohnmächtig, danach liegt er im Krankenhaus und sie besucht ihn, und nach '33 verdrängt er die Sache und erzählt von Heldentaten an der Somme, wo fast sein ganzer Zug übern Jordan ging.

Frl. Pfeufer, die übrigens Agnes heißt, steigt von der Clobrille, nimmt aus dem Regal Schaum, Pinsel, Messer, alles Gegenstände, die sie umständlich verwahrt und sorgsam pflegt, der Vater ist seit Jahrzehnten tot, aber sie pflegt sein Erbe und beginnt sich einzuseifen.

Zwischendurch erklimmt sie wieder ihre Aussichtsplattform. Draußen ist nichts zu sehen. Nur ein unförmiger Fleck, etwas Fleischfarbenes, das sie an einen lange vergangenen Abend erinnert. Sie erklimmt das Closettbecken, um zu sehen, ob auf dem Waldstück etwas zu sehen ist, und zum ersten Mal seit langer Zeit ist wieder mal was zu sehen. Ein unförmiger Fleck, etwas Fleischfarbenes, das sie an einen lange vergangenen Abend erinnert. I 5, würde ich sagen.

Sie verläßt die weiße Villa, tritt ins Bild und folgt den Bögen des Kalkschotters, während der fleischfarbene Fleck immer deutlicher sein Wesen enthüllt, bis zu jener Stelle, wo ein Waldstück von rechts in die satte Wiese kragt.

Hier begegnet Agnes der Kellnerin Susi aus dem Hotel Deutscher Kaiser, wo sie täglich zu Mittag ißt, und Willi, dem Sohn ihres früheren Verlobten, Etzel von Horwitz. Sie liegen aufeinander und kopulieren. Das sieht man zwar nicht als höflicher Mensch, man muß es jedoch annehmen. Er trägt nur noch Schuhe und Socken, sie hat den BH hochgestreift. Um ihre linke Wade ringelt sich eine Art Damenschlüpfer.

Das ist die Strafe für Etzels Untreue, die jedoch kein Grund ist für schlechte Manieren.

"Lassen Sie sich nicht stören!" ruft Frl. Pfeufer deshalb in ein lauter werdendes Stöhnen und betritt die blühende Wiese. Es muß also Sommer sein. "Wir lassen uns nicht stören!" ruft der Landwirtschaftsberater, dem es peinlich ist, daß sie seinetwegen den geschotterten Weg verlassen muß. "Ja, benutzen Sie ruhig weiter den Weg", ruft die Kellnerin ebenfalls, "Sie stören nicht im geringsten", und beginnt wieder zu stöhnen.

Agnes tritt vor das Handwaschbecken, das Gesicht voll Rasierschaum, um sich zu rasieren. Hinter dem Rasierschaum lauert ihr Vater. Es ist ihr Vater, den sie rasieren will. Das Rasiermesser in ihrer Hand zittert. "Warum hast du das getan?" fragt sie, "warum hast du dir den Hals aufgeschnitten?" - "Ich mußte es tun, Agnes. Sie hätten mich sonst an die Front zurückgeschickt. Das viele Sterben, entsetzlich." - "Ich muß es auch tun, Vater. Was du kannst, kann ich auch." - "Warum, Agnes, warum?" - "Um dich umzubringen." - "Aber ich bin doch schon tot, Mädel, ich bin's doch schon." - "Dann stirbst du nochmal."

Der Alte wehrt sich. Er versucht, ganz in sie einzudringen. Schiebt sich in sie hinein wie ein Killervirus, löst sie von innen her auf, bis sie mit einem leisen Schrei das Rasiermesser fallen läßt, ihm den Rasierschaum aus dem Gesicht wischt (ihrem Vater) wie einst, als er sie bat, ihn noch einmal zu rasieren, da er nicht unrasiert das Paradies betreten wollte, und erklimmt wieder ihren Aussichtsturm.

Draußen ist nichts zu sehen. Nichts stört den Frieden. Auch nicht der unbestimmbare fleischfarbene Fleck, der sich jedoch bewegt zu haben scheint. Von F 5 nach G 5 würde ich sagen. Es könnte die nackte Leiche einer Frau sein. Es ist Cosima, die ihr den Verlobten weggeschnappt hat. Das ist zwar schon 50 Jahre her, jedoch unverzeihlich. Sie hätte so gerne geheiratet. Zur Strafe hat Willis Frau Lioba ihre steinalte Schwiegermutter erschlagen und den Tieren des Waldes zum Fraß vorgeworfen.

Geschieht ihr ganz recht. Aber sicher ist das auch nicht. Zumal nun Nebel aus den Wiesen steiget, wunderbar. Wie von unten beleuchtet. Ach! Einmal noch eine Nacht verbringen in einer Pianobar mit einer von unten beleuchteten Tanzfläche. Die Herren so elegant und höflich. Und sie selber so jung, so jung ...

(Nächste Woche: "Fahr noch einmal mit mir nach Positano")