Belemmerter Widerstand

Am 27. September wurde in Schleswig-Holstein die Rechtschreibreform gekippt

Kaum haben wir sie, die neue Rechtschreibung, wird sie wieder gekippt:Am 27September ist in Schleswig-Holstein nicht nur die Kohl-Regierung abgewählt geworden, sondern auch die Rechtschreibreform.

56,4 Prozent der Schleswig-Holsteiner haben sich - per Volksentscheid - gegen die neuen Rechtschreibungsregeln ausgesprochen, die seit dem 1. August bundesweit in den Schulen gelehrt werden. Damit haben die Reformgegner einen nicht zu verachtenden Etappensieg im Kulturkampf um die deutsche Rechtschreibung errungen. Für die Bürgerinitiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" gilt das bescheidene Reformwerk nämlich als ein "Eingriff in die sprachliche Integrität" und damit in unsere demokratischen Grundrechte.

Die Diskussion um die jetzige Rechtschreibreform begann vor fast 20 Jahren: Mit dem Ziel, die Verschriftlichung im deutschen Sprachraum zu vereinheitlichen, wurde 1980 der "Internationale Arbeitskreis für Orthographie" gegründet. Die Vorschläge der Sprachwissenschaftler aus der Schweiz, Österreich, der DDR und BRD waren damals noch radikal: Das "scharfe S" sollte in allen deutschsprachigen Ländern durch "ss" ersetzt werden, Substantive kleingeschrieben sowie eine Anpassung des Schriftdeutschen an die Phonetik erfolgen (beispielsweise "Thron" zu "tron", "Kaiser" zu "keiser"). Nach langjährigen Diskussionen von Experten und Politikern stimmten die Ländervertreter 1994 in Wien einen bereits abgeschwächten Regelkatalog ab. Und noch einmal gab es Widerstand: Der bayrische Kultusminister Hans Zehetmair bestand beispielsweise darauf, dass der "Heilige Vater" nicht im Zuge der konsequenten Adjektiv-Kleinschreibung zum "heiligen Vater" herabgewürdigt würde.

Nach erneutem Ringen und weiteren Kompromissen einigte man sich schliesslich 1996 auf die "Reform light", die seit dem 1. August gilt. Obwohl das Reformwerk amtlich besiegelt und die überarbeitete Schulbuchproduktion abgeschlossen ist, nimmt der Widerstand gegen die neue Orthografie kein Ende. Dass im Juli 1998 das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Einführung der neuen Orthografie durch die Kultusminister als durchaus rechtsgültig befunden hat, veranlasste die gegnerischen Bürgerinitiativen dazu, all ihre Energie auf die Volksentscheide zu lenken.

Die Vehemenz, mit der die "alte" Rechtschreibung verteidigt wird, wirft die Frage auf, wie diese eigentlich zustande gekommen ist. Noch vor 100 Jahren schrieb man in Preussen "Komittee", in Bayern "Comité" und in Württemberg "Komité". 1876 gab es die ersten Bestrebungen, darunter von Konrad Duden, die Orthografie in den deutschen Ländern zu vereinheitlichen. Die Vorschläge für die "Erste Orthographische Konferenz" waren fortschrittlich: Das phonetische Prinzip sollte vor dem historischen (etymologischen) bevorzugt werden (z.B. "Filosofie" statt "Philosophie"). Schon damals galt die Abschaffung der im Schriftlichen sichtbaren Etymologie als Affront gegen die Bildungselite, für die die Schriftbeherrschung ein zu bewahrender Besitzstand war; wie das "Volk" schreibe, könne doch kein Massstab sein. Somit war die Konferenz von 1876 zum Scheitern verurteilt.

Die alten (bis 31. Juli gültigen) Rechtschreibregeln gehen auf die "Zweite Orthographische Konferenz" von 1901 zurück. Eine Grundlage für die damals in Berlin beschlossenen Grundsätze war die preußische Schulorthografie, die Konrad Duden schon 1880 herausgegeben hatte. Von Vereinfachung und Anpassung an die Schreibpräferenzen der Sprachgemeinschaft war 1901 jedoch nicht die Rede. Es handelte sich weniger um eine Reform als um eine Normierung. Zwar gab es sinnvolle Standardisierungen (z.B. die Ersetzung der Konsonanten c durch k, th durch t), die Frage der phonetischen Eingliederung von historisch-nichtdeutschen Vokabeln wurde umgangen, indem man sie im nationalistisch-deutschtümlichen Sinne durch "gute deutsche Ausdrücke" zu ersetzen suchte (z.B. "Dunstkreis" statt "Atmosphäre").

Seitdem hat der von Konrad Duden gegründete Duden-Verlag die Ausdifferenzierung und Konkretisierung des damals beschlossenen, recht allgemein gehaltenen Regelwerkes übernommen, und das bis 1996. 1955 beschloss die bundesdeutsche Kultusministerkonferenz, dass "im Zweifelsfall die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich wären" - bis zu einer neuen Reform.

Eine wichtige Kritik der Reformgegner ist die, dass die neuen Beschlüsse, da nicht von den Parlamenten, sondern nur von der Exekutive beschlossen und durchgesetzt, undemokratisch seien. Haben sie wirklich nicht gewusst, dass das aufgeblähte und hochkomplizierte Regelwerk (die 20. Auflage mit 212 Regeln) auf der Arbeit einer an privatwirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Verlagsredaktion basierte, die niemandem Rechenschaft schuldig ist? Demokratisch ist das nun wirklich nicht.

Und was steckt hinter dieser neudeutschen Vokabel von der "sprachlichen Integrität"? Hier findet eine fatale Verwechslung von Sprache und Orthografie statt. Die Rechtschreibung ist ein minimaler Teil eines Sprachsystems, ihre Beherrschung ist nicht gleich Sprachbeherrschung. Für das eigentliche Sprachverständnis ist es völlig unerheblich, wie ein Wort geschrieben wird. Sprache ist in erster Linie ein Zeichensystem, das sich auf der Kombination von Lauten (Phonemen) und Bedeutungen begründet, die wir mit unserer Sozialisierung erlernen. Eine Verschriftlichung erfolgt je nach gesellschaftlicher Notwendigkeit und Entwicklung. Die grosse Aufregung über die "Filosofie" (jedoch nicht über "Fotografie", daran könne man sich "noch gewöhnen") verrät Standesdünkel, nichts weiter: Man könnte ja auf die Idee kommen, dass jemand, der sie tatsächlich mit "f" schreibt, nicht weiss, woher die Wörter mit "ph" geistesgeschichtlich stammen.

Für die Reform spricht unter anderem, dass sich Rechtschreibung nicht konservieren lässt. Seit 1901 haben sich Schreibgewohnheiten gewandelt. Hier ist es sinnvoll, dass beispielsweise "numerieren" und "plazieren" durch die neue Regel zu "nummerieren" sowie "platzieren" werden. Favorisiert eine Sprachgemeinschaft bestimmte Schreibweisen, muss eine Änderung der Norm erfolgen. Das kann zu einer Entlastung des hochkomplizierten Regelwerkes führen. Die Anpassung ausländischer Vokabeln an die Phonetik des Deutschen bedeutet eine Vereinfachung für die, die die Grundsätze des Schriftdeutschen noch lernen müssen. Das "Kammbeck" mag zwar wunderlich aussehen, die "Majonäse" wirkt schon vertrauter - und über den "Frisör" regt sich längst niemand mehr auf. Also alles eine Frage der Gewöhnung.

An diesen Grundsätzen der Vereinfachung und Anpassung muß die aktuelle Rechtschreibreform gemessen werden. Sie ist dort als positiv zu bewerten, wo sie Wortstämme erhält ("Stofffetzen" anstatt "Stoffetzen"), Wörter trennt, wie es sich infolge des Sprechens ergibt ("U-fer"), und dort, wo sie die Etymologie vernachlässigt ("Delfin"). Dennoch handelt es sich um eine "Reform light", denn infolge der nicht durchgesetzten Substantiv-Kleinschreibung und der Bevorzugung der Getrennt- gegenüber der Zusammenschreibung kommt es zu Unklarheiten. Heisst es nun "Seil springen" oder "seilspringen", "rechthaben" oder "Recht haben"? Hier müsste eine radikalere Reform insbesondere die Fehlerindikatoren von Schülern berücksichtigen, die, wie in pädagogischen Studien bewiesen, vor allem die Kleinschreibung favorisieren.

Das bescheidene Werk war ein positiver Beginn. Mittels des schleswig-holsteinischen Volksentscheides sind wir jetzt auf dem Rückweg zu lokalen Sonderorthografien, was einer Renaissance der Zustände von vor 100 Jahren gleichkommt. Es mag zwar sinnvoll sein, das Verhältnis von Staat und Bürgern zu problematisieren, jedoch nicht an der Frage, ob es nun "belemmert" oder "belämmert" heissen sollte. Da drängen sich andere Themen auf: Da sind Arbeitnehmerrechte abgebaut, das Asylrecht praktisch abgeschafft, der Sozialstaat unterhöhlt ... Wenn es sich gegen ein paar neue Schreibregeln richtet, ist das Widerstandspotential verschwendet.

Der Artikel ist vollständig nach den neuen Rechtschreibregeln geschrieben.