Das Genie der Freiheit

Geometrie des politischen Grauens: Robert Wilsons Interpretation von "Dantons Tod"

Für seine Inszenierung von Georg Büchners "Dantons Tod" hat Robert Wilson eine Geste erfunden, die wie ein Leitmotiv während des gesamten Abends auftaucht: Die Personen heben zum Schreien an, sie reißen den Mund weit auf - aber es ist kein Laut zu vernehmen.

Irgendwann schließen sie dann den Mund wieder, sich ihres Stummseins bewußt, das sie, wenn schon nicht als lächerlich, gewiß als machtlos zeigt. So ergeht es selbst Danton, als er vor dem Revolutionstribunal seine Verteidigungsrede hält. Die Worte bewirken nichts mehr - "Ihre Stimme ist erschöpft", nennt das der Vorsitzende und hebt die Sitzung auf. Lucile hingegen, die später um den Tod ihres Mannes Camille klagt, vermag noch zu schreien: Nur holt all ihr Gebrüll niemanden auf die Gasse. Erst als sie "Es lebe der König!" ruft, wird man auf sie aufmerksam.

Die Schauspielerin Fritzi Haberlandt spricht den kleinen Satz, der ihr Todesurteil bedeutet, gefaßt und einfach so vor sich hin, die Hände ruhig im Schoß, während sich die Henker schon neugierig aufrichten - "Im Namen der Republik!" Da hat, scheint es, nicht nur die Sprache ihre Grenze erreicht.

Büchners Drama, 1834 mit einundzwanzig Jahren geschrieben, ist umfangreich an Personen, Schauplätzen, Ideen, Gefühlen. Eloquent und besessen argumentierend spricht Büchner von der Französischen Revolution und was daraus wurde. Vom mörderischen Kampf unter den Revolutionären, wie die neue Zeit gestaltet, der Lauf der Geschichte beeinflußt werden könne. Und, natürlich, wer der bessere Revolutionär ist und die Wahrheit gepachtet hat, der Tugendhafte, der Epikuräer oder sonstjemand. Das Volk, erschöpft, hungert immer noch.

Robert Wilsons Inszenierung entstand als Koproduktion zwischen den Salzburger Festspielen, wo sie in diesem Sommer gezeigt wurde, und dem Berliner Ensemble, wo letzten Samstag die Premiere stattfand. Wie sollte das gehen, Wilson, der feingeistige Prophet der ästhetisch glatten Bilder, und Büchner, der formensprengende Radikalist, der leidenschaftliche Politiker, verzehrt von Verzweiflung über die gesellschaftliche Restauration im deutschen Vormärz? Es ging, und zwar ausnehmend gut.

Wilson verhält sich dem Stück gegenüber mit strikter Neutralität. Er wertet nicht, er führt vor. Das hat den Vorteil, daß für das Publikum die divergierenden Standpunkte der verschiedenen Parteien deutlich werden. Wie ein geöltes Uhrwerk schnurrt die beängstigende Mechanik aus Konflikt, Manipulation, Verleumdung, falschen Zeugen, Verrat, Korruption und sonstigen Instrumenten im politischen Alltag ab. Büchner hat in "Dantons Tod", wie in "Woyzeck" und "Leonce und Lena", die Form des Dramas zertrümmert: Es kann nicht mehr ätherisch geschlossen existieren, wenn die Zustände, die es umgeben, desolat auseinanderfliegen.

Mit seinen schönen Szenenbildern und den raffiniert ausgefeilten Lichteffekten schließt Wilson diese Risse wieder, aber er gaukelt damit keine scheinheilige Harmonie vor. Denn die Bühne, ein schwarzer Kasten, reißt immer nur in kurzen Bildausschnitten auf. Ein Stilmittel, das Wilson gerne verwendet, und hier besonders glücklich. Die Welt ist nur noch in Bruchstücken zu verstehen respektive auszuhalten. Mit der Weigerung, eine sinnstiftende Totale zu zeigen, vermittelt er Büchners illusionslose, leidenschaftlich analysierte Sicht auf die Dinge und die Kunst.

Wilsons Danton-Welt ist auf Hochglanz poliert und besteht vorwiegend aus Licht und Farbe, geschmackvoll kombiniert. Diese eindrucksvollen Lichträume geben dem schrecklichen Geschehen einen geradezu zynischen Rahmen, in dem kein konkretes historisches Detail Halt bietet und der grausam endlose Wortfluß umso klarer erscheint. Und sehr heutig. Wilson läßt die Personen eine perfekt einstudierte Geometrie des politischen Grauens absolvieren. Wie sehr die Vergangenheit, die Herkunft ihre Gegenwart bestimmt, zeigt sich zum Beispiel in den Handbewegungen. Da gefrieren die ziselierten Anmutsgesten des Adels plötzlich in grotesker Verrenkung, wie eine in letzter Minute unterdrückte Gewohnheit - und ähneln schon mehr der Leichenstarre als der frohen Zukunft. Auch die menuetthaften Bewegungsabläufe, die das Verhältnis der Personen zueinander bestimmen, verraten den Zwiespalt zwischen Anspruch und Realität. Die Münder rufen "Liberté, Egalité und Fraternité", die Füße formieren sich währenddessen zum klassischen Hoftanz.

Stumme Schreie, abgebrochene Gesten, tadellose Kleidung und perfekte Fassade: Ist "Dantons Tod" eine Bestandsaufnahme des Scheiterns nach der Französischen Revolution, so realisiert sie Wilson als stilisiert-nackten Abgesang.

Martin Wuttke spielt den Danton, unruhig, kraftvoll, und mit stets leicht abwesendem Blick. Danton weiß, daß er dieses Drama nicht überleben wird, und es scheint ihn nicht besonders zu stören. Er bezeichnet sich als "Genie der Freiheit" und spricht schon zu Beginn vom Sterben: "Julie, ich liebe dich wie das Grab." Danton und Robespierre (Sylvester Groth) erscheinen als die zwei Seiten einer Medaille, der eine in dunklen Purpur, der andere in helleren gekleidet (Kostüme: Frida Parmeggiani). Bei der großen Auseinandersetzung sitzt Robespierre in einer eisernen Badewanne. Mit der Reminiszenz an Marat nimmt Wilson das baldige Ende des "Blutmessias" der Revolution vorweg. Danton küßt ihn kurz auf die Stirn, ehe sich ihre Wege für immer trennen.

"Deine Lippen haben Augen", sagt einmal zu Danton seine Geliebte Marion (Edith Clever). Büchners Trauer und Weitsicht, die Hoffnung und die Vergeblichkeit, bei Wilson ist das alles präzise choreographiert und surrealistisch ausgestellt. Und wirklich gut zu sehen.

Georg Büchner: "Dantons Tod". Regie/ Bühne: Robert Wilson. Mit Martin Wuttke (Danton), Sylvester Groth (Robespierre), Imogen Kogge (Julie), Fritzi Haberlandt (Lucile), Edith Clever (Marion) u.a.

Weitere Vorstellungen: 7., 8., 9., 11., 12., 13. Oktober, jeweils 19.30 Uhr, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin