Eine Träne für Deutschland
Eine Mauer hatte die niedersächsische Landesregierung zwar schon errichten lassen. Doch was das Hannoversche Innenministerium im Vorfeld des 3. Oktober in ihren Presseerklärungen zumindest theoretisch noch offengelassen hatte, blieb rein symbolisch: Statt die erneute Teilung Deutschlands einzuleiten, trennte der über einhundert Meter lange Schutzwall lediglich die Innenstadt von Hannover von der Innenstadt von Hannover. 92 Kunstwerke säumten die Installation - "Stationen der deutschen Geschichte".
Wo sonst die angeblich mehrere Jahrhunderte umfassende deutsche Geschichte zur nationalen Legitimation herhalten muß, genügten den Organisatoren am "Tag der deutschen Einheit" die letzten 50 Jahre: Obwohl die "Einheit der Deutschen" anhand der Jahre zuvor sicherlich deutlicher zu demonstrieren gewesen wäre, fing die Geschichte im Stammland des kommenden Kanzlers erst 1949 an - mit der Gründung der Bundesrepublik. Am Ende der Geschichtsmauer: ein überdimensionales "Tor zur Zukunft".
Mit Einbruch der Dunkelheit bildeten Laserstrahlen einen lichternen Vorhang in dem Tordurchgang. Dieser sollte, so die mit der Durchführung betraute Agentur T&T Marketing, den "Blick in die Zukunft verschwimmen" lassen; wer den Vorhang durschritt, wagte zugleich - so die erhoffte Botschaft der Marketing-Nationalisten - den "Schritt in die Zukunft".
Doch hinter der symbolischen Innovations-Zukunfts-Einheitshuberei verbarg sich allerlei Zwist. Bereits im Vorfeld der Feierlichkeiten hatte sich die niedersächsische mit der bayerischen Landesregierung zerstritten. Zankapfel: der "Hymnen-Mix" des Komponisten Bardo Henning. Weil acht Takte der DDR-Nationalhymne in dem Stück enthalten waren, blieb Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) gleich daheim - im Freistaat huldigte er dem vor zehn Jahren auf der Jagd von einer Herzattacke zur Strecke gebrachten bayerischen Schutzheiligen Franz Josef Strauß. Auch das Urteil des zur musikalischen Schlichtung herangezogenen Präsidenten der Musikhochschule von Hannover, Klaus-Ernst Behne, konnte Stoiber nicht von der Isar an die Leine locken: Mit der zentralen Festmusik wollte man "zwei Gräben zuschütten", interpretierte Behne das umstrittene Stück: "den Graben zwischen den Deutschen in Ost und West und den Graben zwischen U-Musik und E-Musik."
Den Graben zwischen Preußen und Bayern jedenfalls "schüttete" die Hymne nicht "zu": Stoiber gab noch einmal zu bedenken, welche Wirkung "ein Erklingen der DDR-Hymne ausgerechnet am 'Tag der Deutschen Einheit' auf die zahllosen Opfer des SED-Regimes haben" müsse. Dabei hatte der Komponist doch nur die nationale Aussöhnung musikalisch vorantreiben wollen, so Henning: Nach einem achtminütigen Einstieg "kommen wir am Eisler vorbei und dann zum Herzstück: Das ist original unberührter Haydn." Bundespräsident Roman Herzog sah den Nord-Süd-Streit ebenfalls nicht so eng: "Das ist bei solchen Treffen immer so. Der eine kommt, der andere bleibt weg."
Am Rednerpult gab sich Herzog dann von seiner komischsten Seite. Er setze die deutsche Einheit "als bekannt voraus", "Einzelheiten" würden sich "aus dem Bundesgesetzblatt und aus jedem halbwegs aktuellen Atlas" ergeben. Einen Seitenhieb auf die Hymne konnte er sich dann aber doch nicht verkneifen. Das "deutsche Volk", so Herzog, werde "vor der Geschichte" nicht durch die "damalige Hymne" repräsentiert, sondern durch den Ruf "Wir sind das Volk".
Ein Stichwort, das Gerhard Schröder begierig aufgriff: Jenes "Volk", das sich in Sachsen-Anhalt vor einigen Monaten noch so stimmgewaltig zur DVU bekannt hat, habe mit der Bundestagswahl "demokratische Reife" bewiesen, beschied der künftige Kanzler den Wählerinnen und Wählern aus den neuen Ländern. Mit dem obligatorischen Bekenntnis gegen "die rechtsradikalen Parteien" fuhr er dennoch den ebenso obligatorischen Beifall der 1 700 geladenen Gäste ein. Nur Helmut Kohl hatte zunächst keine Lust zu klatschen. Erst als Schröder ihm "Respekt" für seine Arbeit an der "wiedergewonnen staatlichen Einheit" und am "Aufbau eines vereinigten Europas" zollte, regte sich das Gesicht des Kanzlers. Ob aus Rührung oder aus Trauer über den Abschied aus dem Amt: Die Tränen traten Helmut Kohl bei diesem Lob aus dem Munde des Konkurrenten in die Augen. Verstohlen wischte er sich die salzige Flüssigkeit aus dem Gesicht.
Zeit, an diesem "neunten Jahrestag der staatlichen Einheit Nachkriegsdeutschlands" Zukunftsgedanken zu äußern, blieb Schröder auch noch. Deutschland sei nicht bloß ein "Stand-Ort", sondern ein "Lebens-Ort", erging sich der Noch-Ministerpräsident in nationalistischer Romantik. Deutschland sei "eine Heimat" mit allem, was an "Liebe, Stolz und auch an gemischten Gefühlen" dazugehöre - und "ein Sprungbrett" zum Abspringen in eine "europäische, internationale, friedliche Zukunft".
Die Hannoversche Tageszeitung Neue Presse hatte ihrem Landesfürsten bereits einen Tag vor den Feierlichkeiten den Weg gewiesen: "Seit Gerhard Schröder von hier aus in eine rot-grüne Republik aufgebrochen ist, gilt Hannover gleichsam als Hort der nationalen Hoffnung. Mut, Modernität und neue Mitte entspringen für die Mehrheit der Deutschen an der Leine, wo auch immer alles einmal hinführen mag."