Paris stellt die Frage der Revolution

"Marxismus hatte für meine Generation, die in den siebziger Jahren sozialisiert wurde, immer auch was mit politischer Organisierung zu tun. Wenn ich mir das heute so angucke, dann habe ich den Eindruck, daß dieser Marx-Kongreß eher wenig mit Organisation zu tun hat - so chaotisch, wie das hier abläuft." So sprach der entnervte Politikprofessor Claude Journès, bevor er als Forumsleiter prominenten Teilnehmern das Wort erteilte.

Tatsächlich fielen bei dem "Zweiten Internationalen Marx-Kongreß", der vom 30. September bis 3. Oktober an zwei Pariser Universitäten - an der bürgerlich-vornehmen Sorbonne und im linken Nanterre - und unter dem Motto "Alternativen zum Kapitalismus" stattfand, die Organisationsmängel und die Abwesenheit einer straffen Regie bald sehr angenehm, bald ebenso unangenehm auf. Die Marxologen-Versammlung war nicht die erste ihrer Art in der französischen Hauptstadt: Ein erster "Internationaler Marx-Kongreß" war im September 1995 an denselben Orten abgehalten worden. Und im Frühjahr dieses Jahres hatte, im Mai an der Sorbonne und in der französischen Nationalbibliothek, ein Riesenkongreß zum Thema "150 Jahre Kommunistisches Manifest" (Jungle World, 20/1998) mit geballter internationaler Beteiligung stattgefunden.

Die Häufung größerer Veranstaltungen zu den Themen "Marx" und "Marxismus", die weit mehr als ein Häufchen übriggebliebener ML-Fossilien oder hochspezialisierter, über Marx forschender Wissenschaftler anziehen, belegt ohne Zweifel den Bedarf nach Diskussion über grundlegende gesellschaftliche Alternativen. Freilich hatte man sich dieses Mal wohl etwas übernommen; vielleicht war nach der Großveranstaltung vom Mai bereits das Pulver verschossen. Viele der insgesamt über 100 Foren und Arbeitsgruppen zu Fragen der Ökonomie, Philosophie, Soziologie und des Rechts dümpelten bei einer durchschnittlichen Teilnehmerzahl von 20 Marxologen traurig dahin. Die Spezialisten blieben unter sich.

Beim Abschlußplenum bemängelte die Pariser Ökonomieprofessorin und Trotzkistin Catherine Samaray, daß Vertreter sozialer Bewegungen nur unzureichend in die Kongreßarbeit einbezogen worden seien. Der Berliner Professor und Grüne - er selbst bezeichnet sich als "Ökomarxist" - Frieder Otto Wolf hob hervor, daß es keinerlei Gewißheit mehr gebe und alle Fragen offen seien, darunter auch die, ob man nicht neben "Alternativen zum Kapitalismus" auch "Alternativen im Kapitalismus" verfolgen könne. Dagegen äußerte der Moskauer Professor Sascha Buzgalin zwar scharfe Kritik am "deformierten Proto-Sozialismus", sprach aber auch von der Notwendigkeit, einerseits die sozialen und ökologischen Bewegungen zu unterstützen, andererseits aber die diesen fehlende Radikalität zu befördern und die Frage der Revolution zu stellen.