Sie schreiten Seit’ an Seit’

Noch vor den Koalitionsverhandlungen machen Rot und Grün deutlich: Es gibt keine Widersprüche. Und sie beruhigen: Es bleibt alles beim alten

Was CDU/CSU und FDP seit Jahren als Horrorszenario an die Wand gemalt haben, seit letzter Woche scheint es für das politische Bonn seinen Schrecken verloren zu haben: Rot-Grün bereitet sich auf die Regierungsübernahme vor, aber Krisenstimmung will nicht so recht aufkommen. Am Wahlabend versuchten noch vereinzelte Stimmen die SPD zur großen Koalition zu überreden. Doch die Appelle des Ex-Bild-Chefredakteurs und Kohl-Beraters Peter Boenisch in "Talk im Turm" verhallten ebenso ungehört wie die dringenden Warnungen aus den Unternehmerverbänden.

Auch die Bild-Zeitung selbst versuchte noch auf Seite eins gegenzusteuern: "85 Prozent der Bild-Leser für große Koalition". Es hat alles nichts geholfen. Die Schröders und Fischers, die Lafontaines und Trittins haben längst zueinander gefunden - fast ungläubig und halb berauscht von ihrem in dieser Höhe doch unerwarteten Erfolg. Es war wie eine Familienzusammenführung nach fast 20 Jahren: Die SPD hat ihre verlorenen Töchter und Söhne wieder zurück an den Küchentisch geholt, und wie selbstverständlich setzt man sich nun gemeinsam an die Fleischtöpfe.

Noch am heutigen Mittwoch werden die Koalitionsverhandlungen starten, in zwei Wochen sollen die Parteitage von SPD und Grünen das Ergebnis absegnen. Am 27. Oktober wird der Bundestag Gerhard Schröder zum Kanzler wählen. Die ersten rot-grünen Sondierungsgespräche am vergangenen Freitag verliefen gleich derart harmonisch, daß ein Scheitern der Verhandlungen so gut wie ausgeschlossen werden kann.

Selbst Großindustrie und Unternehmerverbände, die bis zuletzt vor dem drohenden Untergang gewarnt hatten, haben sich binnen kürzester Zeit mit einer rot-grünen Regierung abgefunden. Warum auch nicht: Daß die Macht weiter in den Händen der Großkonzerne bleibt, daran werden auch Vorzeigelinke wie Jürgen Trittin nichts ändern können, selbst wenn sie es wollten. Marktwirtschaftlicher orientierte Repäsentanten der Grünen ließen die Reporter unterdessen wissen, sie würden dem SPD-Wahlversprechen nicht im Wege stehen, die Kürzungen der Kohl-Regierung bei Lohnfortzahlung, Renten und Zahnersatz sowie die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz zurückzunehmen. Allerdings müsse später ein Teil der Kürzungen, etwa bei den Renten, wieder eingeführt werden.

Schon Mitte September hatte der grüne Wirtschaftspolitiker Oswald Metzger lobende Worte für Schwarz-Grün gefunden und Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger gefordert. Wer im künftigen Bündnis den rechten Flügel besetzen wird, ist noch längst nicht ausgemacht.

Schon bei den ersten Vorgesprächen zu Koalitionsverhandlungen, zu denen sich SPD und Grüne am Freitag in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung zu Bonn trafen, beteuerten beide Seiten brav, alles stehe unter Finanzierungsvorbehalt. Was nicht bezahlt werden könne, könne auch nicht verwirklicht werden. Da nicht zu erwarten ist, daß sich die neue Regierung das Geld dort wieder holt, wo es in 16 Jahren Kohl hingeflossen ist - im oberen Drittel der Gesellschaft - wird sie wohl den Kurs der alten weiterführen müssen.

Die Politik der leeren Kassen, die von Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien vorexerziert und von Kohl kopiert wurde, ist auch in Deutschland aufgegangen: Erst wird der Sozialstaat heruntergewirtschaftet, indem man Steuern für die Vermögenden streicht, gleichzeitig aber die Aufwendungen für Militär und Polizei weiter steigen läßt und Massenarbeitslosigkeit produziert. Dann muß man leider, leider, den "ausufernden Wohlfahrtsstaat" kräftig zusammenstutzen.

Auch wenn der alte Steuermann Kohl von Bord gegangen ist: Das Schiff bleibt auf Kurs - das gilt auch für die Außenpolitik, jenen Bereich, in dem die Grünen demnächst mit großer Sicherheit einen Minister stellen werden. Seine Partei stehe für "außenpolitische Kontinuität", wird selbst der Grünen-Sprecher Trittin - demnächst Bundesumweltminister - nicht müde zu betonen. Und er meint damit auch die zukünftige Kosovo-Politik. So werden die Grünen denn auch den nächsten Schritt hin zur Militarisierung der deutschen Politik mitmachen - nur daß sie diesmal nicht als Nebendarsteller mit dabei sind, sondern der handelnde Außenminister Joseph Fischer heißen wird.

Der Beschluß des scheidenden Kohl-Kabinetts, 14 Tornados für Nato-Angriffe gegen Jugoslawien zur Verfügung zu stellen, wird jedenfalls auch von den Grünen begrüßt. Allerdings sollte doch bitte vorher die Uno die Bombardierung billigen. Die Partei, die sich einst auf ihren Transparenten groß mit dem Attribut "gewaltfrei" schmückte, wird wohl grundsätzlich wenig dagegen einzuwenden haben, daß deutsche Piloten ihre Bomben bald dort abwerfen, wo es schon ihre Großväter getan haben.

Während sich die grüne Parteibasis für die Dauer der Koalitionsgespräche in Schweigen zu hüllen scheint, versuchen zumindest einige linke Sozialdemokraten, Einfluß auf die zukünftige Politik ihrer Parteioberen zu nehmen: In einer "Augsburger Erklärung" haben sich SPD-Juristen in der vergangenen Woche für eine Justizreform, eine Änderung des Staatsbürgerrechts und eine an der Sozialpolitik orientierte Kriminalitätsbekämpfung ausgesprochen. "Wir erwarten von einer SPD-geführten Bundesregierung, daß sie ihre Innenpolitik nicht zur Polizei- und Justizpolitik verkrüppelt, sondern daß sie das zivile Zusammenleben der Menschen freiheitlich gestaltet", heißt es in der Erklärung. "Es dürfen nicht weitere Grundrechte abgebaut werden."

Wer die Hoffnung hat, gewinnt ein neues Leben, doch warum sollte die SPD in der Regierung das unterlassen, was sie in der Opposition so begeistert mitgemacht hat? Der designierte SPD-Innenminister Otto Schily hat jedenfalls bereits angekündigt, eine Rücknahme des Großen Lauschangriffs komme nicht in Frage.

Ein paar neue Akzente wird es natürlich trotzdem geben: Sofort nach der Regierungsübernahme wollen SPD und Grüne nach dem Vorbild Frankreichs ein Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf den Weg bringen, kündigte SPD-Chef Lafontaine an. 100 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze sollen so geschaffen werden, vor allem in Ostdeutschland.

Angesichts der freundschaftlichen Atmosphäre zwischen den Verhandlungspartnern schon beim ersten Treffen am Freitag dürften auch die strittigen Punkte kaum Probleme bereiten: Die Grünen haben schließlich schon vorab auf eine feste Frist für den Atom-Ausstieg verzichtet, und auch in Sachen Öko-Steuer dürften sie mit der von Schröder dekretierten Obergrenze von sechs Pfennig mehr für den Liter Benzin pro Jahr zufriedenzustellen sein.

Daß Forderungen wie die des Berlin-Kreuzberger Parteilinken Christian Ströbele nach einem Ausstieg aus dem Transrapid bei den Koalitionsverhandlungen keine Rolle spielen werden, dafür sorgt die Partei schon selbst. Im Vorfeld der Verhandlungen dürfe man derartige Bedingungen nicht stellen, wies die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn, die selbst soeben dem Showdown mit ihren sozialdemokratischen Kabinettskollegen entgegenstrebt (siehe Randspalte) ihren Parteifreund Ströbele zurecht. Damit riskiere man nur, daß der potentielle Koalitionspartner barsch reagiere.

Höhn kümmerte sich statt dessen lieber ums Wesentliche: Sie forderte vier Ministerposten für ihre Partei.