57. Fahr noch einmal mit mir nach Positano

Fortgesetzte Erzählungen

"Tita, dann schmeiß doch", quengelte Modder und wandte sich ab. Ich fröstelte. Und Capri leicht verschleiert, versank über den Bug wie ein gigantisches Containerschiff.

Wir hielten auf einem Rastplatz über dem Golf von Neapel. Das Gekräusel auf dem Wasser glitzerte unsäglich, und die Silhouetten der Häuser waren umgeben von einer rotgoldenen Aura. Unsere zwei Söhne spielten mit alten Zigarettenschachteln Autounfall, nur Schredda hatten wir bei meiner Mutter gelassen.

"Es löscht das Meer die Sonne aus", knödelte Modder wie ein Dritteltenor und breitete die Arme aus. "Sag mal, spinnst du?" nölte Icke. "Nein, nein, ich fahr' schon", sagte Modder.

Ich entschied mich für ein Yellow Sunshine, während Icke ein Löschpapier nahm, und die Sonnenstrahlen flutschten wie flache Steinchen über das Wasser, als wir die Trips einwarfen. "Kommt, Kinder", rief ich, "wir müssen weiter. In einer Stunde sind wir in Positano."

Herculaneum war ein Fehlschlag gewesen. Modder las gerade die Reisen eines Deutschen in Italien von Karl Philipp Moritz und schwärmte, Italien sei so unvergänglich, daß sich die Dinge praktisch nicht von der Stelle gerührt hätten seit 200 Jahren.

Wir fuhren also nach Herkulaneum, fanden auch das schloßartige Gebäude, und nachdem alle jungen Portiers behauptet hatten, ihnen sei von einem archäologischen Museum nix bekannt, schleppten sie einen alten Portier an. Er war fast mumifiziert und erinnerte sich erfreut, daß, als er anfing, dieses Haus ein Museum war. Das freute uns auch und nach einem Tramezzino bei Tino fuhren wir weiter.

Die Abkürzung über das Gebirge von Sorrent nach Positano führt über einen entzückenden Eselpfad, aber mein Trip kam nicht. "Was macht dein Trip?" fragte ich. "Schläft", murmelte Icke verschlafen. "Ich glaub', ich nehm' noch einen." Die Kinder skandierten: "Wann sind wir endlich da, Papa?!" Bei Sant' Agata, wo man auf zwei Gölfe blickt, fingen sie an zu kotzen, der vielen Kurven wegen, und wir stiegen aus und atmeten tief durch.

Der Trip kam so plötzlich, daß ich erschrak. Icke leuchtete violett an den Rändern, die Landschaft glühte und der Hall war riesig - die Stimme der Hirten in den Bergen, die Glocken der Ziegen. Die Zeit begann sofort, sich absurd zu dehnen, und jede Bewegung, jedes Ereignis dauerte unendlich.

Es dämmerte, als wir ankamen. Unsere drei Freunde warteten schon, beruhigten sich aber, als sie hörten, daß wir Trips und Dope hatten und warfen jeder ein Yellow Sunshine. Sie betrachteten unsere Mitbringsel und wir sprachen darüber.

Die Bücher und die Waffen waren o.k., aber die Ausweise waren beschissen, und Andreas schimpfte über die Kleinkriminellen, mit denen man zu tun hat als Untergrundkämpfer. "Kein Mensch kann mehr richtig Ausweise fälschen. Das sieht ein Blinder mit dem Krückstock, daß die Dinger gefälscht sind!" rief er und warf sie uns vor die Füße. Die Wohnung hatte einen schönen Blick auf den Golf. Sie war kaum möbliert, und überall lagen Skizzen und Treatments für irgendwelche Kommandounternehmen rum.

Wir saßen auf dem Boden, sprachen über die alten Zeiten und warteten, daß es endlich dunkel genug wurde, um die Waffen auszuprobieren. Andreas hatte auch schlechte Erfahrungen mit Kleinkriminellen in Neapel. Einmal hatte einer versucht, ihren Benz aufzuknacken, während sie im Museum von Capodimonte waren.

"Was ist das für ein unterentwickeltes Land, wo die Ganoven keinen Benz aufkriegen, ohne ihn zu verkratzen?" sagte er unaufgeräumt. Modder erzählte ein paar Partisanengeschichten, die er gehört hatte. "Ihr Unterschlupf waren die zahllosen Höhlen in den Bergen und die Katakomben in den Städten. Wenn ich Italiener wäre", sagte er, "würde ich sofort anfangen. Hier hat der Untergrund wirklich Tradition."

Andreas lächelte spöttisch. "Wir sind keine Maulwürfe." - "War ja nur so 'ne Idee."

Natürlich sprachen wir auch über die Zukunft der imperialistischen Staaten der Multinationale. Die Vorbereitungen zum bewaffneten Kampf waren fast abgeschlossen und die drei wollten nicht mehr warten. "Ruf an, sobald wir kommen sollen." Ich nickte.

Gegen fünf war es dunkel genug. "Wer nimmt die Aktentasche?" - "Moi je", sagte Modder. Das war irgendwie logisch, daß er die Tasche mit den Waffen trug. Jeder von uns wäre damit aufgefallen. Er dagegen schien prädestiniert, die Tasche zu tragen. Bei ihm paßte alles zusammen: Die Frisur, die Brille, der Anzug, der Schlips und der Kragen.

Das Wäldchen lag gleich hinter der Siedlung und jeder durfte einmal ballern, während Modder mit den Kindern beim Auto blieb. Ich stopfte mir die Zeigefinger in die Ohren, aber es nutzte nichts. Lauter konnte es beim Ausbruch des Vesuv im Jahre '69 nach Christus auch nicht geballert haben. Der Himmel hallte wie eine Kirchenglocke, wir lauschten dem Nachhall und genossen noch eine Weile das Atmen der Milchstraße. Das Echo der nächsten Sterne traf nach etwa sieben Minuten ein.

Wir aßen in einer kleinen Kneipe unten am Hafen, und es geschah hier, daß ich ein unvergeßliches Erlebnis hatte.

Die Tischdecke war rot-weiß kariert, und wir waren die einzigen Gäste, denn es war praktisch tiefer Winter, aber ich hörte die Stimmen der Gäste, die die Muffbude seit Jahrzehnten zugequasselt hatten, so dicht, daß man keine Luft mehr kriegte.

Ich hielt die Gabel in der Hand, starrte auf den tiefen Teller und sah, daß die Spaghetti sich leise bewegten. Sie bewegten sich fast unmerklich, aber langsam wurde ihre Bewegung schneller. Das Weiß der Spaghetti war unnatürlich weiß. So weiß wie Würmer, deren Epidermis nie das Licht des Lichts erblickt hat, und nun sah ich auch, daß auf dem tiefen Teller in der Tomatensoße keine Spaghetti schwammen, sondern, ohne Augen, Ohren, Nasen, Münder, Würmer.

Sie schlängelten sich kreuz und quer durch die tiefrote Tomatensoße, in der irgendwelche Bröckchen schwammen, die undefinierbar waren, vielleicht eine Art Fischfutter, und ihre Bewegungen wurden immer hastiger und aggressiver, als balgten sie sich um das Futter.

Am nächsten Tag fuhren wir zurück, die Waffen unter der Rückbank. "Ihr könnt die Dinger wieder mitnehmen", sagte Andi, "die brauchen wir erst, wenn wir wieder in Berlin sind."

So tuckerten wir langsam gen Norden. Icke und ich warfen noch einen Trip in Pompeji, was ich nur empfehlen kann, und dann noch einen in Rom auf dem Palatinshügel, der ebenfalls sehr ergiebig war. Ruinen bringen's im Grunde nur auf Acid.

In der Toskana mußte Modder natürlich wieder Wein kaufen, Wein und Schnaps, und er hatte zu diesem Zweck immer zwei Ballons zu 25 und einen kleinen zu fünf Liter auf der Ladefläche seines Opel Olympia Caravan Jahrgang '57, den mit den schräg nach hinten laufenden Seitenrahmen der Windschutzscheibe, und das hätte uns fast noch Ärger gebracht.

Wir fuhren über die Grenze bei Kufstein, wir hatten extra die letzten 50 Kilometer gelüftet, die Kinder schliefen auf der Rückbank, Icke schlief vorne, der deutsche Zöllner tippte an seine Mütze, und da geschah es. "Haben Sie was zu verzollen?" Modder deutet mit dem Daumen nach hinten. "Eine Frau und zwei Kinder." - "Sonst nichts?" - "Fünfzig Liter Landwein."

In dem Augenblick höre ich auf der Rückbank ein Rascheln, und unser Ältester flüstert: "Papi, du hast doch auch noch Schnaps gekauft."

Er hält seinen Mund an Modders Ohr, er flüstert so laut, daß man ihn bis Wanne-Eickel hört.

"Ach, ja", sagt Modder, "du hast recht. Den Schnaps."

Glauben Sie mir: Es war ein absolut heißer Augenblick, denn genauso gut hätte der gute Mann die ganze Karre zerlegen können wie damals auf der Fahrt von Hamburg nach Westberlin, wo sie sogar einen uralten Bückling fanden, der hinter die Rückbank gerutscht war.

Aber Modder stieg aus, total cool, verzollte die Alkoholika, siebzehn Pfennig den Liter Rotwein, DM 9,59 den Schnaps und fuhr einfach weiter. Er war wirklich der ideale Aktentaschenträger.

Wir hielten gegen zehn Uhr vorm Donisl, wo es um diese Morgenstunde die besten Weißwürstel gibt. "Was ist", stammelte Icke, "sind wir schon über die Grenze?"

(Nächste Woche: "Das Wespennest")