Lusitanischer Exorzist

Der portugiesische Autor José Saramago erhält den Literatur-Nobelpreis

Portugal steht Kopf, seit vergangenen Donnerstag verkündet wurde, daß José Saramago den Literaturnobelpreis erhält. In Lissabon waren seine Bücher noch vor dem Abend ausverkauft, und am Donnerstag brachte selbst die Fußballzeitung Record sein Bild auf der Titelseite. Aus Brasilien hagelte es Glückwunschtelegramme, und auch Spanien - wo Saramago seinen Wohnsitz hat - freut sich öffentlich.

Binnen weniger Minuten ist aus dem 75jährigen, der am Tag der Bekanntgabe nichts anderes vorgehabt hatte, als von einer mäßig besuchten Podiumsdiskussion in Frankfurt nach Hause zurückzufliegen, eine Art Popstar geworden. Dem Gerücht, er werde den Nobelpreis bekommen, für den er seit Jahren nominiert war, hatte diesmal niemand, am wenigsten er selbst, Glauben geschenkt.

Saramago ist der erste portugiesischsprachige Autor, der diese Auszeichnung erhält, und es ist ein glücklicher Umstand, daß er auch in Brasilien, spätestens seit er öffentlich für die Landlosenbewegung MST Partei ergriffen hat, beliebt ist und auch als Autor geschätzt wird - was nicht unbedingt vielen portugiesischen Autoren vergönnt ist. Doch jenseits des nationalen und lusophonen Taumels und ungeachtet der Tatsache, daß seit der Stiftung des Nobelpreises schon zu viele Autoren aus diesem Sprachraum übergangen worden sind, hat sein Werk diese Auszeichnung schlichtweg verdient.

Der gelernte Schlosser schrieb 1947 seinen ersten Roman, den er inzwischen aus seiner "offiziellen" Bibliographie gestrichen hat; er veröffentlichte Literaturkritiken, Essays, Kurzprosa und Gedichte u.a. in Seara Nova, dem Sprachrohr der portugiesischen Neorealisten.

1972 wurde er Redakteur einer Tageszeitung, doch zwei Jahre nach der Nelkenrevolution hängte er, im Alter von 54 Jahren, diesen Job an den Nagel, um nur noch Bücher zu schreiben. Inzwischen zählt man neun Romane, zwei Erzählbände, Theaterstücke, Essaysammlungen und, seit er 1993 auf die Kanaren-Insel Lanzarote übersiedelte, vier autobiographische "Tagebücher".

Sein Stil ist, auch wenn er bislang keine direkten Nachahmer gefunden hat, prägend für die Schriftstellergeneration der Zeit nach dem Faschismus und stellt zugleich ein Bindeglied zwischen dieser Generation und dem zuvor dominanten Neorealismus dar, durch dessen Schule Saramago gegangen ist. Wohl geht es ihm noch darum, Widersprüche in der Gesellschaft aufzudecken, doch er tut dies ironisch, in der Umkehrung der üblichen Perspektiven und gerne doppeldeutig. Geschichte(n) und ihre Mythen, jedwede Wahrheiten werden unbarmherzig zersetzt und in ihrer Fragwürdigkeit bloßgestellt.

Dies kulminiert 1995 in der grandiosen und grausamen Anti-Utopie "Die Stadt der Blinden". Hier macht der epidemieartige kollektive Verlust der Sehkraft in wenigen Tagen sämtliche positiven Werte der Zivilisation zunichte. Was relativ harmlos damit beginnt, daß ein einziger Autofahrer mitten im Straßenverkehr stehen bleibt, weil er nichts mehr sieht, steigert sich zu einem Inferno, in dem die Menschen orientierungslos durch eine verwüstete Welt taumeln, in der die Angst ums nackte Überleben sie zu debilen Bestien werden läßt. Für den kategorischen Pessimisten Saramago ein Kommentar zum Zustand der Menschheit, aber auch ein Bild dafür, wie fragwürdig und instabil alle Sicherheiten sind.

Saramago ist ein Zweifler, aber auch ein Moralist, sein Pessimismus ist weit davon entfernt, zynisch zu wirken, denn die Sympathie für die von den Verhältnissen getriebenen Menschen ist immer zu spüren.

Am deutlichsten wird dies in der Figur seines Jesus von Nazareth, der in "Das Evangelium nach Jesus Christus" von einem unbarmherzigen Gott gegen seinen Willen zum Messias erkoren wird und keinen Ausweg aus der nicht zu verhindernden Katastrophe der Christianisierung der Welt sieht, als sich von seinem Freund Judas an die Römer verraten zu lassen.

Wenn der Vatikan die Verleihung des Nobelpreises an den "Kommunisten, Atheisten und Blasphemiker" Saramago öffentlich geißelt, liegt dies vor allem an diesem Buch, das bei seinem Erscheinen 1991 in Portugal im Parlament diskutiert wurde, weil die damalige konservative Regierung Saramago von der Vorschlagsliste für den Europäischen Literaturpreis streichen ließ.

Debatten verursachte auch "Das Steinerne Floß" (1986), in dem sich die iberische Halbinsel vom Festland abtrennt und in den Atlantik hinaustreibt - eine Reflektion über das zwiespältige Verhältnis der ehemaligen Weltmacht Portugal zum Rest von Europa.

Sein vielleicht schönstes Buch ist "Memorial do Convento" (1982), das die Geschichte eines pompösen Klosterbaus im 18. Jahrhundert mit der Liebesgeschichte zweier Ausgestoßener verbindet. Allein mit Hilfe der Willenskraft, die sie ganz greifbar in Gefäßen sammeln, gelingt es dem Paar, eine Flugmaschine des historisch verbürgten Paters Bartolomeu de Gusm‹o zum Fliegen zu bringen. Das Buch ist ein Musterbeispiel für Saramagos Methode, offizielle Geschichte zu dekonstruieren und ihren mythischen Gehalt anhand phantastischer Elemente sichtbar zu machen.

"Memorial" wurde sein erstes international erfolgreiches Buch. 1986 wurde es bei Aufbau unter dem Titel "Das Kloster zu Mafra" veröffentlicht und erschien wenig später auch im Westen als "Das Memorial" bei Rowohlt, wo man im Jahr darauf auch "Hoffnung im Alentejo" aus der DDR übernahm, das die Geschichte Portugals vom Anfang des Jahrhunderts bis zum Befreiungsschlag der Nelkenrevolution aus der Perspektive einer Landarbeiterfamilie erzählt.

Von da an erschienen alle Romane und ein Band mit Erzählungen in deutscher Übersetzung bei Rowohlt - mit Ausnahme des "Jugendwerks" "Terra do Pecado", das inzwischen immerhin auf Portugiesisch wieder vorliegt, und des letzten, "Todos os Nomes", dessen Übersetzung nun wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. "Todos os Nomes" - "Alle Namen" - stellt die Frage nach dem Wert des Individuums anhand einer falsch einsortierten Karteikarte, die einen Schreiber im Archiv des Standesamtes auf die Idee bringt, nach der dazugehörigen Person zu suchen. Diese Suche, die zur Obsession wird, zerstört seine bürgerliche und fast seine körperliche Existenz und endet auf einem dem Archiv gegenüberliegenden gigantischen Friedhof, auf dem ein koboldhafter Hirte im Morgengrauen die Grabsteine vertauscht.

Am Anfang seiner Karriere waren es noch Sujets der portugiesischen Mythen- und Literaturgeschichte, mit denen sich Saramago listig auseinandersetzte. In seinen drei Romanen der neunziger Jahre hat er Portugal verlassen und sich existentiellen Themen zugewandt. Daß er dabei seine ironische und spielerische Schreibweise noch zu perfektionieren wußte, hatte sein Publikum längst anerkannt. Und jetzt auch das Nobelkomitee.