Nostalgie als Therapie

In Rußland gehen Parteikommunisten, Monarchisten, Nationalisten, Antisemiten und Jelzin-Widersacher gemeinsam auf die Straße. Weil früher alles besser war

Auf dem Petersburger Schloßplatz nahm einstmals die "Große Oktoberrevolution" ihren Anfang, und 81 Jahre später, am Mittwoch vergangener Woche, formiert sich auf dem Platz im ehemaligen Leningrad erneut eine Masse von Unzufriedenen - aufgerufen von Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei der Russischen Förderation (KPRF).

Das Ganze wirkt allerdings wie eine Reise in die Vergangenheit. In einem Meer aus roten Sowjetfahnen tauchen immer wieder die schwarz-gelb-weißen Fahnen der Monarchisten auf, vereinzelt irrt eine schwarze Fahne der Petersburger Anarchisten samt ihrem Anführer durch die demonstrierende Masse. Disziplinierte Aktivisten der Russischen Nationalen Einheit, herausgeputzt im SS-Outfit, verteilen überall ihre Flugblätter, in denen sie einen nationalsozialistischen russischen Staat fordern. Gleichzeitig singen verbitterte Rentner nostalgisch sowjetische Lieder, begleitet von Akkordeonklängen. Stalin ist auch dabei - als Plakat natürlich nur, gemeinsam mit Lenin weht er durch die Luft in der einstigen Zarenstadt.

Ein Weltkriegsveteran hat sich für den Protesttag hübsch herausgeputzt, trägt eine Kollektion glitzernder Kriegsorden und außerdem ein Plakat mit der Aufschrift "Was Napoleon und Hitler nicht geschafft haben, haben Gorbatschow und Jelzin fast vollendet: die Zerstörung der russischen Armee". Der Vorsitzende einer Bewegung Russisches Imperium warnt lauthals und eindringlich vor einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung. Auch die jugendlichen Anhänger der National-Bolschewistischen Partei haben kein besonders differenziertes Weltbild: "Sozialismus oder Tod", brüllen sie. Nur zwei einsame Trotzkisten fordern in dem vergangenheitszugewandten Schauspiel trotzig mehr Demokratie - einen Arbeiterstaat wollen sie errichten. In Moskau beteiligt sich auch General Lebed, einst ein Verbündeter Jelzins, an den Demonstrationen.

Insgesamt wirkt der großartig angekündigte und lange vorbereitete Protesttag eher wie eine massentherapeutische Maßnahme - und unterscheidet sich damit so gut wie gar nicht von anderen Mobilisierungen der russischen Opposition. So extrem ihre Ansichten nach links und rechts ausschlagen - sie haben sich auf eine ganze Anzahl gemeinsamer Feinde eingeschossen, um einen festen Halt in der undurchsichtigen postsowjetischen Realität zu finden: Präsident Boris Jelzin, die imperialistischen USA, der IWF und für viele auch "die Juden". Was sie aber am stärksten miteinander verbindet, ist ihr Nationalismus mit deutlich chauvinistischen Zügen.

Neben den Radikalen, die an jedem Protesttag ihr gleiche Spektakel veranstalten, beteiligen sich diesmal aber auch viele Arbeiter aus den Kombinaten Petersburgs, sogar Gewerkschaftsvertreter aus dem Kernkraftwerk Sosnowy Bor sind dabei. Ihnen geht es vor allem um die Auszahlung ausstehender Löhne und den Rücktritt des Präsidenten. Sie sind allerdings sichtlich bemüht, einen gewissen Abstand zu den Anhängern der KPRF zu halten. Die Kommunisten selbst wollen sich wiederum unbedingt von allen Extremisten fernhalten, denn schließlich ist es ihr Ziel, sich perspektivisch als dominierende Kraft einer neuen linken Mitte zu etablieren. Die Kommunistische Partei will deshalb vor allem einen neuen Präsidenten, keineswegs aber eine neue alte Sowjetunion, obwohl das nostalgische Schwärmen von alten Zeiten zweifellos ein wichtiges Mobilisierungsmoment ist.

Aber das Streben nach gesellschaftlicher Akzeptanz wird beizeiten von Skandalen erschüttert. So soll beispielsweise der Duma-Abgeordnete Albert Makaschow, ein prominentes Mitglied der Partei, auf der 7. Oktober-Kundgebung in Samara öffentlich antisemitische Parolen skandiert haben. Deswegen muß der ehemalige General, der 1991 die Putschisten in Moskau anführte, nun eventuell sein Mitgliedsbuch abgeben - wenn das Plenum des Zentralkomitees am 20. Oktober einen entsprechenden Antrag bestätigt.

Insgesamt ist die Resonanz auf den Protestaufruf zum 7. Oktober - trotz langer Vorbereitung und der verschlechterten Situation im Land - eher gering. Das liegt einerseits an der Angst vor gewalttätigen Ausschreitungen, vor allem aber an der Politikverdrossenheit der meisten Russen. Obwohl sie grundsätzlich die Forderungen nach Jelzins Rücktritt unterstützen, glauben sie einfach nicht daran, daß eine Demonstration überhaupt etwas bewirken kann.

Denn für fast alle Russen ist die Krise, der Kampf ums materielle Überleben, inzwischen zur Normalität geworden. Die Jagd nach preiswerten Lebensmitteln beschäftigt sie wesentlich mehr als die politische Situation im Land. In Rußland kümmert man sich eben hauptsächlich um sich und seine Allernächsten.