Der Flaschenwerfer

Eine neue Ernst Jünger-Biographie zeigt den Dichter als Mann des Gewöhnlichen
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"Nur wer classisch gelebt hat", behauptete Friedrich Schlegel, "verdient eine Biographie." Paul Noack, der dieses Diktum seiner Ernst-Jünger-Biographie voranstellt, ist nicht zuletzt im eigenen Interesse davon überzeugt, daß das Objekt seiner Bemühungen dieser Prämisse entspricht. Für den emeritierten Münchner Professor ist Ernst Jünger "eine deutsche Gestalt von europäischem Rang"; ihn "der Gruppe derer zuzugesellen, auf die ein Volk sich etwas zugute hält, kann nicht verwerflich sein".

Einen Moment lang ist man versucht, das Buch zuzuklappen - aus Angst, 326 Seiten Jünger-Classics über sich ergehen lassen zu müssen, aber die Bedenken zerstreuen sich bei der Lektüre. Paul Noack bricht im Gegensatz zu früheren biographischen Versuchen mit bisherigen Tabus und gibt persönliche Details preis, die Jünger in längst geahnten, aber nie belegten Gewöhnlichkeiten zeigen.

Unterdrückte Stellen aus den Erstfassungen von "In Stahlgewittern" etwa geben Aufschluß darüber, daß der Pour le Mérite-Träger im Ersten Weltkrieg soff wie der restliche Haufen auch. Peinlich mißlungene Gedichte zeigen den späteren Manieristen noch im ruckeligen Anfangsstadium; unbarmherzige Blicke in muffige Mietskasernenzimmer bringen im Antibürger und aristokratischen Flaneur der zwanziger Jahre den spießigen Proleten und Flaschenwerfer zum Vorschein.

Der rüde Anti-Weimarer Jünger war in seiner nationalistischen Kampfzeit ein Snob offenbar nur im direkten Wortsinne, ein Mensch sine nobilitate. Ohne schriftstellerische Anerkennung als Schreiber von Kriegserinnerungen fristete er ein denkbar kümmerliches Dasein inmitten der kleinbürgerlichen Fadheit der Zwanziger, weshalb er später als Großschriftsteller seine derart unwilde Frühzeit tunlichst verschwieg.

Greta von Jeinsen, Jüngers erste Frau, heiratete 1925 den größten Pascha, der sich denken läßt: Jünger nannte sich "der Gebieter" und betraute das ergebene Weib "Perpetua" mit der Organisation der häuslichen Welt - konsequent: Bis zu ihrem Tod 1960 hat sie sämtliche Umzüge alleine durchgeführt, ohne daß der "Gebieter" auch nur hilfreich geblinzelt hätte. Jünger kam immer erst, wenn die Wohnung fertig eingerichtet war.

Im Zweiten Weltkrieg hatte Frau Jünger ihre schlimmste Prüfung zu bestehen - eine Situation, an der sie zerbrach: Ihr "Gebieter" vergnügte sich mit den "Blitzmädchen" im besetzten Paris, während sie in Deutschland um ihn bangte. Die Heimkehr im September 1944 war dementsprechend frostig, wie sein Tagebuch vermerkt: "Kirchhorst. Begrüßung".

Greta von Jeinsen hatte eigene Ambitionen längst aufgegeben. Hätte sie, selbst Schriftstellerin, ihren eigenen Büchern jene Energie gewidmet, die der Haustyrann unbarmherzig abzapfte, wären Teile des Jüngerschen Werkes ungeschrieben geblieben. Paul Noack beschreibt Jüngers Beziehungen zu Frauen als rein sexuell, oberflächlich, lieblos. Selbst am Totenbett Gretas erwies er sich als unfähig zu einer menschlichen Regung. Erst in der Ehe mit seiner zweiten Frau, die ihm als ehemalige Mitarbeiterin des Marbacher Literaturarchivs beim millionenträchtigen Nachlaßverkauf sachkundig zur Seite stand, kam so etwas wie geschäftige zwischenmenschliche Wärme zur Abstrahlung.

Noack zeigt den Nachkriegs-Jünger als einen Antidemokraten mit Tendenz zur Besserung, der schließlich sogar dem Sekretär Armin Mohler zu liberal wurde. Der 60jährige verfiel, äußerlich noch immer in der Pose des Stahlerotikers, zeitweilig in Schwermut, was Noack mit einem Zitat aus Michael Kletts Rede zum 100. Geburtstag belegt: "Es wird berichtet, er sei (...) ein Jahr lang jeden Morgen aufgestanden und habe den Tag, gesellschaftlich korrekt gekleidet, vor sich hinstarrend in einem Sessel verbracht." Von Jüngers Vorliebe für Lagerfeuer in oberschwäbischen Kiesgruben oder seiner späten Konversion zum Katholizismus erfährt man bei Noack manche Neuigkeit. Allerdings verstärkt der Blick auf die Liste seiner Gewährsleute, den Eindruck, daß hier noch immer nicht aus dem Vollen geschöpft wurde.

Obgleich auf Distanz bedacht, gerät der Autor doch in einem Punkt in den Verdacht, beschönigen zu wollen. Zwar wird Jüngers Agitatoren-Rolle am Vorabend des Dritten Reiches von Noack betont; er behauptet jedoch zugleich, Jüngers nationalrevolutionäre publizistische Aktivität sei bereits 1927 so gut wie beendet gewesen: "Während er zwischen 1925 und 1927 mehr als fünfzig Artikel für verschiedene rechtsnationale Blätter verfaßt hat, sind es in den fünfeinhalb Jahren zwischen April 1927 und September 1933 noch gerade vierzig."

Zieht man die akribische Bestandsaufnahme der politischen Publizistik Jüngers zwischen 1927 und 1933 zurate, die Renate Haßel und Bruno Reimann 1995 in ihrem "Ernst Jünger-Brevier" vorgelegt haben, so ergibt sich ein etwas anderes Bild: Statt "mehr als fünfzig" Artikel sind 1925 bis 1927 tatsächlich 71 erschienen, und die "noch gerade vierzig" weiteren bis 1933 sind zu korrigieren auf 69! Wenn Noack in seiner Literaturliste als Erscheinungsdatum des ihm nominell bekannten Haßel/Reimann-Reports "1955" angibt (statt 1995), kann man freilich - wenn es kein Druckfehler ist - auch vermuten, daß er nicht immer alle Quellen benutzt hat, über die er verfügte.

Paul Noacks Biographie bietet dennoch Ansätze, das Bild des großen Unnahbaren zugunsten eines anmaßenden Kleinen zu korrigieren, der es bitter nötig hatte, einen Schutzschild virtueller Nobilität zu erzeugen.

Paul Noack: Ernst Jünger. Alexander Fest, Berlin 1998, 368 S., DM 49,80