Der große Knall

Nach der Explosion einer Pipeline in Nigeria droht nun der Bürgerkrieg

Der Knall soll sogar noch in Nigerias Nachbarstaaten zu hören gewesen sein: Mindestens 700, vielleicht mehr als 1 000 Menschen verbrannten, als am 18. Oktober im südnigerianischen Jesse aus einer Pipeline ausgetretenes Benzin explodierte. Das Militärregime unter General Abdulsalam Abubakar und der staatliche Energiekonzern PPMC gaben den Opfern die Schuld, weil sie die Pipeline "sabotiert" hätten. Ob die Pipeline tatsächlich angebohrt wurde, weil die örtliche Bevölkerung auch einmal an den Öleinnahmen teilhaben wollte, oder ob sie, wie viele andere, schlicht durchgerostet war, wird sich wahrscheinlich nie klären lassen. Möglich wurde die Katastrophe jedenfalls durch eine rücksichtslose Ölförderungspolitik, die Pipelines quer durch Siedlungen verlegen läßt und auf Sicherheitsvorkehrungen und Umweltschutz grundsätzlich verzichtet.

Schon 1995 war die nigerianische Ölwirtschaft in die Schlagzeilen geraten. Dem Schriftsteller Ken Saro-Wiwa war es gelungen, die Umweltvergiftung, die Unterdrückung der Bevölkerung in den Ölfördergebieten und das Bündnis zwischen westlichen Ölkonzernen und dem Militärregime publik zu machen. Saro-Wiwa wurde in einem fingierten Prozeß zum Tode verurteilt; in realistischer Einschätzung der westlichen Politik ignorierte das Regime internationale Proteste und ließ ihn hinrichten. Die Empörung verebbte schnell, und die Konzerne machten weiter wie zuvor. Jetzt bekommen sie und die Generäle die Rechnung präsentiert.

Aus dem gesamten Gebiet zwischen den östlichen Vororten von Lagos und der Grenze zu Kamerun werden Unruhen gemeldet. Der Aufstand, ausgelöst durch die vom Regime verfügte Verlegung einer Regionalverwaltung Anfang des Jahres, wird von Milizen der Ijaw getragen, die als viertgrößte Bevölkerungsgruppe des Landes gelten. Eine politische Führung ist bisher nicht öffentlich hervorgetreten, es ist jedoch sicher, daß hinter den koordinierten Angriffen der teilweise gut bewaffneten Gruppen eine Organisation steckt. Ijaw-Milizen haben wichtige Ölanlagen besetzt, gegenwärtig konzentrieren sich die Kämpfe auf die Ölmetropole Warri. Die Ölförderung soll bereits um ein Drittel zurückgegangen sein.

Die Forderungen nach Beteiligung an den Öleinnahmen und stärkerer politischer Repräsentanz gehen einher mit Hegemoniekämpfen, bei denen mehrere hundert Dörfer zerstört wurden. Das Vorgehen der Aufständischen spricht dafür, daß die Einschätzung von Magnus Araulene, einem Führer der von den Vertreibungen betroffenen Ilaje, korrekt ist: "Die Ijaws wollen alle Gebiete kontrollieren, in denen es Öl gibt, und dann eine Vereinbarung mit den Ölgesellschaften treffen."

Die Armee zögert mit der Rückeroberung der Ölanlagen, die bei Kämpfen kaum unbeschädigt bleiben würden. Künftig will die Zentralregierung den Förderregionen 13, vielleicht sogar 25 statt der bisherigen drei Pozent der Öleinnahmen abtreten. Doch von einem Versprechen des Regimes bis zum Bau einer Straße oder Dorfschule ist es ein weiter Weg. Ob die angekündigten Zugeständnisse die Lage beruhigen können, ist zweifelhaft. Zumal die Armee in den ökonomisch weniger interessanten Wohngebieten von Warri dem Befehl "shoot at sight" untersteht. Die Erschießung der üblichen Verdächtigen wird die Gemüter sicher nicht besänftigen.

Nach dem Tod von General und Staatschef Sani Abacha im Juni dieses Jahres setzte sich im Offizierskorps eine gemäßigte Fraktion durch. Mißwirtschaft und maßlose Korruption haben zum Verfall des Ölsektors geführt, der 90 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes einbringt. Damit sind auch die Pfründe der Militärherrscher und der mit ihnen verbündeten zivilen Oligarchie gefährdet. Das Land droht auseinanderzubrechen, das Regime muß seine Basis verbreitern, wenn es überleben will. Unwahrscheinlich ist allerdings, daß die Generäle Macht und Pfründen gänzlich entsagen wollen. Abubakar strebt ein oligarchisches Regime mit zwei oder drei Parteien an.

Ein Teil der Demokratiebewegung entschied sich trotz zahlreicher Beschränkungen für die Teilnahme an den für Februar 1999 vorgesehenen Wahlen. Am 19. Oktober ließ die Wahlkommission neun von 25 Parteien zu. Angesichts der kurzen Zeit seit der politischen Öffnung hatte keine der Parteien die hohen Auflagen der Wahlkommission wirklich erfüllt. Die tatsächlichen Zulassungskriterien blieben unklar, was zu wütenden Protesten der Ausgeschlossenen geführt hat. Nähe zum Militärregime allerdings war keine Bedingung, mit der Alliance for Democracy (AD) erhielt auch eine aus der Demokratiebewegung hervorgegangene Partei die Zulassung. Neben ihr gelten die von der Abacha-kritischen nordnigerianischen Oligarchie geführte People's Democratic Party (PDP) und die dem Militärregime verbundene All People's Party (APP) als die potentiell bedeutendsten Parteien.

Um endgültig zugelassen zu werden, müssen die Parteien bei Kommunalwahlen im Dezember in 24 von 36 Bundesstaaten mindestens zehn Prozent der Stimmen gewinnen - angesichts der Regionalisierung der Politik eine Hürde, die nur wenige nehmen werden. Die Generäle begründen ihre Maßnahmen mit der Notwendigkeit, landesweit arbeitende politische Parteien schaffen und eine Spaltung der Parteienlandschaft vermeiden zu wollen.

In Nigeria gibt es, je nach den Kriterien der Zählung, zwischen 230 und 450 Gruppen, die ihre Herkunft als politischen Faktor angeben. Die Oligarchien der größten unter ihnen, der Haussa und Fulani im Norden (zusammen knapp ein Drittel der Bevölkerung), der Yoruba im Westen (20 bis 25 Prozent) und der Igbo im Osten (17 Prozent), dominieren die Politik. Im schwächer entwickelten Norden hat die traditionelle islamische Aristokratie noch großen Einfluß, so daß soziale Bewegungen sich kaum etablieren konnten. Offiziere aus dem Norden dominieren in der Militärführung. In den südlichen Landesteilen, wo sich Rohstoffwirtschaft und Handel konzentrieren, ist die Bourgeoisie stärker entwickelt. Hier, vor allem unter den Yoruba, hat die Demokratiebewegung ihre stärkste Basis.

Als geschlossene Fronten stehen sich die Landesteile jedoch nicht gegenüber. Die Generäle haben unter der Oligarchie des Südens viele Verbündete, und bei den vom Militär annullierten Wahlen von 1993 gewann der Kandidat der Demokratiebewegung, ein Yoruba, auch im Norden die Mehrheit.

Die Demokratiebewegung besteht teils aus von der Oligarchie geführten Parteien, teils aus radikaleren, von den Mittelschichten und gewerkschaftlichen Kreisen getragenen Organisationen. Einige Gruppen setzen auf die "ethnische Karte", und in jüngerer Zeit wurden häufiger separatistische Forderungen laut.

Die Ethnisierung der Politik läßt sich jedoch nicht durch militärische Dekrete aufheben, und ob es eine kluge Entscheidung ist, die Mehrzahl der kooperationswilligen Politiker auszugrenzen, darf bezweifelt werden. Gegenwärtig deutet sich die Herausbildung von zwei Blöcken an. Die von Yorubas dominierte AD verhandelt mit der PDP; die APP bemüht sich, Igbo-Politiker zu gewinnen. Soziale Bewegungen, kleinere Parteien und die meisten anderen Gruppen haben allenfalls die Möglichkeit, sich den großen Blöcken anzuschließen, um vielleicht ein paar Krümel vom großen Kuchen abzubekommen. So wird die vielleicht letzte Chance vertan, durch die Dezentralisierung der Macht die Ausgegrenzten zu integrieren.

Auch die Integration der großen Bevölkerungsgruppen ist keineswegs gesichert. So solidarisierte sich das Pan-Yoruba Action Committee mit dem Aufstand der Ijaw und forderte Yoruba-Soldaten auf, nicht gegen die Aufständischen zu kämpfen. Wenn auch nur ein Teil der Yoruba- oder der Igbo-Organisationen sich aktiv an der Ijaw-Rebellion beteiligt, wäre ein Bürgerkrieg kaum noch zu vermeiden.