Der Westen ist schuld

Der Prozeß Nikitin: Rußland geht gegen Öko-Aktivisten vor

Lecks in russischen Atom-U-Booten und ernstzunehmende Unfälle auf den Schiffen der russischen Flotte wie beispielsweise die Explosion einer Rakete an Bord - weil er solche Vorfälle öffentlicht machte, steht Kapitän Aleksandr Nikitin, Ex-Atominspekteur der russischen Streitkräfte, seit Dienstag vergangener Woche in Petersburg vor Gericht.

Als die norwegische Umweltschutzorganisation Bellona 1996 einen Report über die russischen Atom-U-Boote in der Nordsee veröffentlichte, erregte das Papier nicht nur wegen der darin enthaltenen Berichte über ökologische Gefahren Aufsehen, sondern auch, weil der ehemalige russische Marineoffizier Nikitin zwei Kapitel des Berichts verfaßt hatte.

Bellona kam in dem Report zu dem Schluß, daß die nordrussische Stadt Murmansk, Heimathafen vieler atombetriebener U-Boote, ein "slow-motion Tschernobyl" sei. Kurz nach der Veröffentlichung, im Februar 1996, wurde Nikitin wegen Geheimnisverrats verhaftet, nachdem Agenten des russischen Geheimdienstes FSB das Bellona-Büro in Murmansk durchsucht und dort Unterlagen konfisziert hatten. Zehn Monate, davon zwei isoliert, blieb Nikitin ohne offizielle Anklage in Haft, bis ein Richter schließlich seine Freilassung anordnete.

Nikitin beharrt darauf, nichts Verbotenes getan und vor allem keine Geheimnisse verraten zu haben: "Alles Material, das ich, die russische Nordsee-Flotte betreffend, gesammelt habe, stammt aus öffentlich zugänglichen Quellen. Natürlich floß auch meine eigene professionelle Erfahrung aus den Jahren als Offizier ein." Sein Ziel sei es gewesen, eine atomare Katastrophe zu verhindern. Daß er wegen dieser Arbeit unter anderem wegen Spionage angeklagt werden würde, konnte sich Nikitin, seit 1994 Mitarbeiter bei Bellona, damals nicht vorstellen, der FSB wollte ihm jedoch den Prozeß machen.

"Bis heute folgt man mir überall hin, mein Telefon wird immer noch abgehört", berichtete Nikitin der norwegischen Zeitung Dagbladet einen Tag vor dem in der letzten Woche eröffneten Verfahren bei einem Treffen in einem Petersburger Café, das nach Beobachtungen des Journalisten Thorbj¿rn Berg ebenfalls von Agenten überwacht und fotografiert worden sein soll. Einen Monat zuvor hatten Nikitins Frau Tatjana und die Kinder Rußland verlassen. Sie zogen aus Sicherheitsgründen nach Kanada. "Für den FSB geht es ums Prestige, dort hat man allerdings nicht erwartet, auf so großen Widerstand zu stoßen", meinte Nikitin. "Man hoffte wohl, daß die alten Methoden immer noch funktionieren - aber die Zeiten haben sich geändert."

Zunächst sollten auch im Prozeß merkwürdige Regeln gelten: Das Gesetz, gegen das Nikitin vorgeworfen wird, verstoßen zu haben, galt als geheim - selbst Richter Sergej Golets und der Verteidigung wurde es erst wenige Tage vor Verhandlungsbeginn vorgelegt. Danach zeigte sich Jurij Schmidt, der Anwalt Nikitins, verhalten optimistisch: "Man kann hier nie wissen. Ein Richter kann eine unschuldige Person trotzdem verurteilen, vielleicht, weil er einen schlechten Tag hatte oder einen furchtbaren Kater. So etwas kann im russischen Rechtswesen immer noch passieren - deshalb ist dieser Prozeß ein Prüfstein für Rußlands Zukunft."

Der erste Verhandlungstag, an dem auch einige Duma-Abgeordnete als offizielle Bobachter teilnahmen, endete mit Erfolgen für die Verteidigung: Richter Golets erklärte, der Prozeß werde zum größten Teil öffentlich geführt, und die Zeugen der Anklage - Vladimir Rudenko und Sergej Filipov - waren dem Staatsanwalt Aleksandr Gutsan keine große Hilfe. Rudenko, Nikitins Kollege bei der Atominspektion, betonte, er habe keine geheimen Informationen an Nikitin weitergegeben und der Angeklagte habe auch nicht selbst danach gefragt. Und Filipov, früherer Bellona-Mitarbeiter im Murmansker Büro, wies den Vorwurf, daß die Ökogruppe Informationen in Murmansk sammelte, um sie an westliche Geheimdienste weiterzugeben, zurück.

Gutsan hatte zuvor versucht, die Arbeit von Bellona als Spionage für westliche Geheimdienste darzustellen, die unter der Tarnung des Umweltschutzes betrieben werde. Auch die Aussage von Admiral Jegenij Tsjernov, der unter Anschluß der Öffentlichkeit vernommen wurde, soll nach Berichten des Dagbladets positiv für Nikitin ausgefallen sein. Das allerdings ist nicht verwunderlich, denn Tsjernov ist Nikitins Schwiegervater.