Durchbruch bei Schröder

Nach ihrem Treffen mit dem künftigen Kanzler sind die Profiteure der Zwangsarbeit zuversichtlich. Nur bei IG Farben wird man langsam nervös

Glaubt man der Tagesschau, ist in der vergangenen Woche ein "Durchbruch" in Sachen Entschädigung von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern erzielt worden. Am 21. Oktober berichtete die Nachrichtensendung hintereinander über das Treffen der deutschen Industriemagnaten beim künftigen Kanzler Schröder und über eine Konferenz früherer Zwangsarbeiter der IG Farben im ehemaligen IG-Hochhaus in Frankfurt am Main, in das nun die Frankfurter Universität einzieht.

Die ARD-Sendung erweckte den Eindruck, die alten Herren seien nach Deutschland gereist, um sich für etwas zu bedanken, das ihnen noch nicht einmal andeutungsweise verspochen worden war, nämlich für Entschädigungszahlungen. Ganz nonchalant ließ der Bericht ein kleines, aber entscheidendes Wort aus: Auschwitz. Die IG Farben-Zwangsarbeiter waren Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz III Monowitz, des einzigen, das einem deutschen Konzern gehörte. Um aus Auschwitz den Vorposten der deutschen Chemieindustrie zu machen, wurden Zehntausende Häftlinge zur Sklavenarbeit gezwungen. 30 000 von ihnen wurden im firmeneigenen KZ ermordet oder fanden in Auschwitz-Birkenau den Tod durch Giftgas, für dessen Ausgabe der SS-Apotheker Capesius zuständig war, ein Angestellter der zu IG Farben gehörenden Bayer-Werke.

Für diese und andere Verbrechen wurde IG Farben von den Alliierten liquidiert und in seine Bestandteile zerlegt, von denen drei heute größer sind, als es IG Farben je war: Bayer, BASF und Hoechst. Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal sprach trotz erdrückender Beweislast nur Minimalstrafen für die Hauptangeklagten aus.

Auf Anweisung des Alliierten Kontrollrats wurde eine Abwicklungsgesellschaft gegründet, um Auslandsverpflichtungen abzuwickeln, Pensionen an die verdienten ehemaligen Direktoren auszuzahlen, die auch noch vorzeitig begnadigt worden waren, und um Überlebende zu entschädigen.

Das war 1954. Heute existiert diese Abwicklungsgesellschaft noch immer; unter Protesten ehemaliger Zwangsarbeiter führt sie jährlich ihre Aktionärsversammlungen durch. Anfang der neunziger Jahre machte IG Farben AG in Abwicklung (i.A.) auf sich aufmerksam, als die damaligen Liquidatoren - wie die Vorstandsmitglieder hier heißen - versuchten, ehemalige IG-Farben-Grundstücke auf dem Gebiet der früheren DDR zurückzuerhalten. Seitdem wechselte IG Farben den Besitzer, weil die damaligen Liquidatoren nach mehreren Niederlagen vor Gericht keine Chance mehr sahen, noch mehr Geld aus der Abwicklung herauszuschlagen.

Als ein Gericht 1993 den Antrag der IG Farben endgültig ablehnte, sich umbenennen zu dürfen, befand sich die Firma auf dem absteigenden Ast. Seither wollen Gerüchte über eine bevorstehende Liquidation des Konzerns nicht verstummen. "Eigentlich ist da nichts mehr zu holen", meint Henry Mathews vom Dachverband der kritischen Aktionäre heute; eine baldige Liquidation sei zu erwarten.

"Sie warten nur einen günstigen Zeitpunkt ab", sagt auch der ehemalige IG-Farben-Zwangsarbeiter Hans Frankenthal aus Dortmund, der sich seit Jahren an den Protesten beteiligt. Ein günstiger Zeitpunkt, das wäre, wenn eine Liquidation und die Auszahlung des Restvermögens von etwa 30 Millionen Mark an die verbleibenden Aktionäre erfolgen könnte, ohne auf Entschädigungsforderungen zu stoßen. Die weitestgehenden Forderungen lauten: Auflösung der Gesellschaft und Überführung des gesamten Restvermögen in eine Stiftung zur Entschädigung der Opfer und zum Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz.

Unter dem Eindruck der Sammelklagen jüdischer Zwangsarbeiter gegen deutsche Konzerne haben die Liquidationsgerüchte in jüngster Zeit neue Nahrung erhalten. Am selben Tag, als sich in Hannover die Profiteure der Zwangsarbeit und in Frankfurt die Opfer der IG Farben trafen, vermeldete die FAZ, mit den Aktien, die bei IG Farben Liquidationsanteilscheine heißen, sei während der vergangenen Monaten ein ungewöhnlich reger Handel getrieben worden. Außerdem habe sich einer der beiden Liquidatoren verabschiedet: Anstelle von Günter Reese aus Berlin soll nun der Möllner Rechtsanwalt Volker Pollehn dem Immobilienhändler Günther Minninger zur Seite stehen. Minninger, der bisher Mehrheitsaktionär war, hat offenbar auch einen Teil seiner Anteilsscheine verkauft.

Die Aktionärsversammlung, die für den 27. November angekündigt war, soll nun, so ein Konzernsprecher, "höchstwahrscheinlich am 18. Dezember" stattfinden. Die Verschiebung begründet der Konzern damit, daß das Amtsgericht den neuen Liquidator noch nicht bestätigt habe.

Was auf der Versammlung beschlossen werden soll, was der Hintergrund für den Wechsel bei den Liquidatoren und den durch den Wertpapierhandel deutlich werdenden Eigentümerwechsel ist - darüber kann nur spekuliert werden, solange nicht bekannt ist, wer die IG-Farben-Aktien gekauft hat.

Einen Hinweis könnte die Anwesenheit des neuen Liquidators Pollehn auf dem Treffen der ehemaligen IG-Farben-Zwangsarbeiter geben. Dort sprach Pollehn mit ehemaligen Häftlingen. Obwohl nicht als Thema im Tagungsgprogramm vorgesehen, war Entschädigung eines der Hauptthemen auf dem ersten und wahrscheinlich auch letzten Treffen, bei dem mehr als 90 der noch lebenden etwa 120 Häftlingen des IG-Farben-KZ anwesend waren. Viele von ihnen, die aus Belgien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Israel, Kanada, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Ungarn, der Schweiz und den USA gekommen waren, wollen nun über eine Sammelklage nachdenken. In Israel und den USA soll es hierzu bereits konkrete Vorbereitungen geben; auf dem Treffen fanden sich weitere zehn ehemalige Häftlinge, die nun klagen wollen. Wenig wahrscheinlich, daß Pollehn aus einem anderen Grund auf dem Treffen auftauchte.

Im Falle einer Sammelklage würde IG Farben in der Klemme stecken, denn im Gegensatz zu anderen Großunternehmen könnte die Liquidationsgesellschaft die Entschädigung nicht aus der Portokasse zahlen. Die Forderungen könnten den Rest an Dividende verschlucken, die den Aktionären noch bliebe. Zugleich werden gerade die IG-Farben-Nachfolger Bayer, BASF und Hoechst kein Interesse haben, IG Farben i.A. in einen möglichen Bundesfonds aufzunehmen, weil man dadurch an die eigene unangenehme Vergangenheit erinnert würde.

Bisher konnten die Nachfolger ihre Verantwortung gut delegieren, und da sie es nicht einmal für nötig befanden, das Treffen in Frankfurt zu unterstützen, kann davon ausgegangen werden, daß sie bei dieser Haltung bleiben werden.

IG Farben i.A. muß also einen anderen Weg finden, um um nennenswerte Zahlungen herumzukommen. Die meisten der Überlebenden in Frankfurt hatten Ende der fünfziger Jahre 5 000 Mark über die Jewish Claims Conference erhalten. Ob sie nun noch eine weitere Entschädigung bekommen können, steht, entgegen anderslautenden Meldungen, nicht fest. Das medienwirksam vermarktete Industriellen-Treffen bei Schröder hatte in erster Linie den Zweck, sich die Unterstützung des künftigen Kanzlers zu sichern. Schröder kam dieser Forderung mit den Worten nach, die deutsche Industrie könne sich auf den "Schutz des Staates" verlassen. Die Konzerne haben noch keine einheitliche Haltung in der Entschädigungsfrage, deswegen wird nun eine Arbeitsgruppe der Unternehmen mit Bodo Hombach, dem künftigen Kanzleramtsminister, versuchen, eine Linie gegen die Sammelklagen zu finden.

Diese Linie könnte einen humanitären Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beinhalten, in den die Unternehmen einzahlen, wenn dafür die Sammelklagen zurückgezogen werden. Sollten die Kläger darauf nicht eingehen, könnten sich die Unternehmen auf den "Schutz des Staates" verlassen, so wie einen Tag nach dem "Durchbruch" in der Tagesschau: Am 22. Oktober verhandelte das Oberlandesgericht Köln als zweite Instanz

die Entschädigungsklage ehemaliger Zwangsarbeiterinnen der Weichsel Metall Union, die ebenfalls in Auschwitz produzieren ließ. Das Bonner Landgericht hatte den Frauen ein Recht auf Entschädigung zugesprochen, das Bundesfinanzministerium war in die Berufung gegangen.

Über die in den rot-grünen Koalitionsverhandlungen vereinbarte Gründung zweier Entschädigungsstiftungen - eine für die Zwangsarbeiter und eine für die vom Bundesentschädigungsgesetz "vergessenen" Opfer - ist derzeit nichts in Erfahrung zu bringen, auch wenn der Eindruck erweckt wird, es handle sich nur noch um eine Angelegenheit von wenigen Wochen. Die Rechtspolitiker der neuen Koalition "Günter Saathoff und Volker Beck sagen nicht ein konkretes Wort zu den Stiftungen. Außer allgemeinen Absichtserklärungen gibt es faktisch bisher nichts", sagt Christine Krause, die für die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis, in der auch viele Siemens-Zwangsarbeiter organisiert sind, Entschädigungsfragen behandelt.

Unwahrscheinlich, daß es noch in diesem Jahr zur Gründung des Bundesfonds kommen wird. Für eine schnelle Abwicklung spricht allein die Hoffnung der Konzernspitzen, durch schnelle Zahlungen könnte das öffentliche Interesse an den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und deren Forderungen erlahmen.

Bisher jedenfalls hat sich an der Haltung der Unternehmen nichts geändert: Was sie tun, tun sie nicht, um zu zahlen, sondern um nicht zu zahlen.