Vergessene Orte

Überall weiße Flecken

Vergessene Orte I: Vor 60 Jahren griff der Berliner Mob fast alle jüdischen Einrichtungen und Wohnungen an - ein paar Gedenktafeln erinnern dezent und verschwiegen daran

Am 9. November 1938 war Erwin Leiser 15 Jahre alt und Schüler der Jüdischen Oberschule in der Wilsnacker Straße. "Meine Mutter und ich wachten mitten in der Nacht auf. Wir hörten Schreie und das Klirren von Glas. Als ich am nächsten Morgen des 10. November zur Straßenbahnhaltestelle ging, um in die Schule zu fahren, sah ich, daß die beiden jüdischen Geschäfte auf meinem Schulweg keine Fensterscheiben mehr hatten und daß die Auslagen leer waren. (...) An der Straßenbahnhaltestelle traf ich einen Lehrer. Er war die ganze Nacht wach gewesen und erzählte mir, was er über die Verhaftung von Freunden wußte. Ich sagte, daß ich an einem solchen Tag nicht in die Schule gehen wolle, und er antwortete, daß er mich natürlich nicht zwingen wolle, die Ereignisse der Nacht würden aber die Arbeit der Schule nicht beeinträchtigen. Ich sah ihn nie wieder. Zwei Stunden später wurden alle Lehrer und Schüler verhaftet, die sich in der Schule eingefunden hatten."

Leiser ist in Hohenschönhausen aufgewachsen, in der Berliner Straße und der Schönhauser Allee. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, war 1937 an den Folgen einer Operation gestorben. Seit 1933 war dessen Notariat boykottiert worden. Vor der Tür, erinnert sich der spätere Dokumentarfilmer Leiser, standen am 1. April Männer mit Schildern "Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden". Seine Mutter, eine Verwandte Ernst Tollers, arbeitete als Vertreterin und war aktiv in der Liga für Menschenrechte. Sie und Leiser selbst überlebten die NS-Zeit in England bzw. in Schweden.

Georg Kantorowsky war am 9. November 1938 bereits 55 und Rabbiner der reformorientierten Synagoge des Israelitischen Brüder-Vereins zu Rixdorf e.V. Die Synagoge im Hinterhof der Isarstr. 8 in Neukölln wurde in der Nacht zerstört, Kantorowsky am 11. November verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Einen Monat später wurde er freigelassen und emigrierte 1940 nach Shanghai, später in die USA. Sein Sohn Hans wurde 1943 in Auschwitz ermordet.

Otto Morgenstern, pensionierter Lehrer und Kommunalpolitiker aus Steglitz, wohnte am 9. November 1938 in der Söhrtstraße 2. Seine Eltern waren bereits im 19. Jahrhundert zum Protestantismus konvertiert. Nach den Nürnberger Gesetzen galt Morgenstern als Jude, und nach den Novemberpogromen wurde der 78jährige zur Arbeit als Straßenkehrer gezwungen. 1942 starb

er nach der Deportation in Theresienstadt.

Erwin Leiser ist an jenem Morgen des 10. November 1938 nicht zur Schule gegangen. Statt dessen flitzte er durch die Stadt und beobachtete das Geschehen: "Ich ging durch die Straßen und sah, wie die Synagogen brannten, hörte die Leute über die Ereignisse sprechen. Immer wieder kamen Sätze wie 'Sei man vorsichtig' und 'Da mischt man sich besser nicht ein'. Ich schloß mich einer Gruppe an, die von Geschäft zu Geschäft zog, Schaufenster und Türen einschlug, Stoffe und andere Waren aus den Regalen zerrte. Ich sah Polizisten, die zuschauten oder gegen Leute einschritten, die die Aktion stören wollten. (...) Ich erinnere mich noch daran, wie sich der 'Volkszorn' gegen eine elegant angezogene Frau wandte, die die Menge daran hindern wollte, eine Tür aufzubrechen. Ein Mann spuckte ihr ins Gesicht, und die anderen grölten."

Es gibt bis heute keine historische Aufarbeitung des Geschehens für Gesamt-Berlin, nur für einzelne Stadtteile oder Bezirke. Im November 1938 existierten noch jüdische Schulen und Zeitungen, sogar Theater, jedoch waren die Nürnberger Gesetze schon drei Jahre in Kraft und mehr als ein Viertel aller jüdischen Unternehmen "arisiert" worden. Im Juni und Oktober 1938 war es bereits zu Massenverhaftungen (nach Sachsenhausen und Buchenwald) und Abschiebungen "vorbestrafter" und polnischer Juden gekommen (siehe auch S. 27). Entgegen der durch die Nazipropaganda geschürten Übertreibungen bildete die jüdische Bevölkerung jedoch nur eine winzige Minderheit, selbst in Berlin, wo ein reges kulturelles Leben die jüdische Identität pflegte. Die Reichshauptstadt hatte damals an die vier Millionen Einwohner, und deren oft erst per Rassegesetz als "Juden" erklärter Anteil betrug keine fünf Prozent.

Der von den Nazis organisierte "Volkszorn" im November 1938 richtete sich keineswegs nur gegen Synagogen und als jüdisch gekennzeichnete Unternehmen, auch Privatwohnungen und soziale Einrichtungen wurden angegriffen. Die Gedenktafeln von heute erwecken den Eindruck, daß die Berliner Juden des Jahres 1938 sich fast ausschließlich aus feinen Geschäftsleuten, berühmten Kulturschaffenden oder orthodoxen Synagogenmitgliedern zusammengesetzt haben müßten. Für die namenlos Gewordenen, für all die, deren Familien in Birkenau und den anderen Vernichtungslagern ausgelöscht wurden, für die Armen und die Unberühmten gibt es kein Gedenken.

Mehr als 10 000 jüdische Männer wurden im Zusammenhang mit den Novemberpogromen allein in Berlin verhaftet. 1 800 von ihnen wurden ins KZ Sachsenhausen verschubt, 450 bereits in den darauffolgenden Tagen umgebracht.

Nur zwei der insgesamt etwa 110 Erinnerungstafeln an verfolgte, emigrierte oder ermordete jüdische Menschen im heutigen Berlin nennen Namen von Verfolgten im Zusammenhang mit dem November 1938, eine dritte die eines Polizisten, der dem Mob entgegentrat. An jenen Orten, an denen heute eine Gedenktafel hängt und historisch erwiesen ist, daß es in jenen Tagen 1938 dort zu Ausschreitungen gekommen ist - es sind ganze 27 von Tausenden - werden am 9. November 1998 vom "Verein Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin" Erinnerungsplakate angebracht. Der 1983 gegründete Verein, dem u.a. die Existenz der Stiftung und des Museums Topographie des Terrors zu verdanken ist, macht sich zur Aufgabe, insbesondere über die Berliner NS-Geschichte und deren Folgen und Kontinuitäten aufzuklären. Die Aktion am 9. November ist, so Geschäftsführerin Christiane Hoss, nur symbolisch, denn im Grunde besteht Berlin, auch was die Erinnerung an die Novemberpogrome betrifft, noch aus vielen weißen Flecken.

Die Zitate sind Erwin Leisers "Gott hat kein Kleingeld. Erinnerungen", Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993, entnommen.