Aufstand in der Oberstadt

Lafontaines Zinssenkungspolitik steht zu Unrecht unter Verdacht der Renditefeindlichkeit

Theo Waigel, schreibt die Süddeutsche Zeitung, "hinterließ zwar einen riesigen Schuldenberg, aber er akzeptierte wenigstens theoretisch die Vorgaben der derzeitigen ökonomischen Mehrheitsmeinung, wonach es mehr Beschäftigung nur dann gibt, wenn der Staat sich zurückzieht und die Angebotsbedingung für die Wirtschaft verbessert".

Ein Satz, der einmal mehr deutlich macht, daß Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft auch im Blick ihrer Nutznießer so wenig miteinander zu tun haben wie Schuldenberge und Mehrheitsmeinungen. Ein Satz, der in Diktion und Gedankentiefe aber gleichzeitig repräsentativ für die Hysterie steht, die letzte Woche in deutschen Wirtschaftsredaktionen ausbrach, nachdem Finanzminister Lafontaine an die Bundesbank appelliert hatte, ihre Geldpolitik stärker an einem forcierten Wirschaftswachstum und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu orientieren.

Einhellig wurde moniert, die Ermahnungen Lafontaines seien ein Angriff auf die "Unabhängigkeit der Bundesbank" - ganz so, als sei die während der Ära Kohl von Bundesbank und Regierung einhellig betriebene Politik der Geldwertstabilität eine rein zufällige Übereinstimmung auf dem Weg in eine neoliberal getrimmte Realwirtschaft mit kasinokapitalistischem Überbau.

In der taz echauffierte sich Ulrike Fokken - in der Redaktion zuständig für ehemalige alternative Hinterhofbastler, die es mittlerweile zu veritablen Softwareunternehmen mit Empfangsdame gebracht haben - über das "marktschreierische Gehabe" des Finanzministers; die Frankfurter Rundschau klagte nach Lafontaines Besuch in der Bundesbank am vergangenen Donnertag über das "Wortgeklingel der Politiker".

Die Wirtschaftswoche, deren Redakteure nur Gesinnungstreue und Aktionäre kennen, formulierte im Nachrichtendienst ihrer Internet-Page besonders feinsinnig: "Sollte es der neuen Regierung nämlich nicht gelingen, die Arbeitslosigkeit zu senken, steht für Lafontaine der Schuldige schon fest: die starre Haltung der Zentralbanker: Die Logik der neue Machthaber zeugt jedoch von Unkenntnis der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge. Es gehört" - so adelt man die "derzeitige ökonomische Mehrheitsmeinung" zur unumstößlichen Erkenntnis - "zum Wissensfundus eines jeden Ökonomiestudenten, daß mit einer expansiven Geldpolitik langfristig die Beschäftigung nicht erhöht werden kann. Der Physiker Lafontaine sollte einen Blick in die Lehrbücher werfen, statt auf die verquasten Theorien seiner Berater zu hören."

Im Zuge solcher Attacken sind Lafontaines Berater in den letzten Tagen richtig prominent geworden: Seine Ehefrau Christa Müller (s. Seite 23) sowie die Staatssekretäre Heiner Flassbeck und Claus Noé werden allerorten als Fanclub des britischen Nachfragetheoretikers John Maynard Keynes geoutet. Motiviert von Keynes teilweise mißverstandenen Tips sahen die regierenden europäischen Sozialdemokratien während der siebziger Jahre in der Massenkaufkraft die entscheidende Größe für wirtschaftliches Wachstum und betrieben eine schuldenfinanzierte Ankurbelung der Nachfrage.

Solche Rezepte kamen im Übergang zu den achtziger Jahren aus der Mode; Kohl, Thatcher und Reagan standen Regierungen vor, die sich - zum Teil ziemlich erfolglos - bemühten, Staat und Markt zu trennen. Selbstverständlich entsprangen dabei jene Entwicklungen, die heute unter Stichworten wie Neoliberalismus, Globalisierung, Deregulierung, Angebotsorientierung gefaßt werden, nicht dem Räsonnement von (Wirtschafts-)Politikern, sondern den Notwendigkeiten des kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesses selbst.

Lafontaine hat keineswegs vor, gegen diese Notwendigkeiten Politik zu machen. Das zeigen nicht nur seine jüngsten Vorschläge, Arbeitslose künftig aus Steuereinnahmen statt über das traditionelle, von den Unternehmern mitfinanzierte Versicherungsmodell zu bezahlen (Jungle World, Nr. 45/98). Sein Vorstoß zur Senkung der Bundesbank-Zinsen war ähnlich gepolt: Niedrige Zinsen begünstigen über die Wechselkursmechanik die Exportwirtschaft, jene Marktabteilung also, die die deutsche Ökonomie dominiert und im internationalen Vergleich häufig als "Weltmeister" abschneidet. Zudem, so das Kalkül, würden niedrigere Zinsen die durch die jüngsten Crashs an den Börsen drohende (bzw. in Gang befindliche) Flucht aus Aktienwerten bremsen und die Entwertung des fiktiven Kapitals stoppen, da unter Niedrigzinsbedingungen Aktien tendenziell gegenüber anderen Anlageformen bevorzugt werden.

Begründet hat Lafontaines Staatssekretär Heiner Flassbeck diese Politik, als er noch Konjunkturexperte im gewerkschaftsnahen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin war: Anfang September legte er eine Studie vor, die die Notwendigkeit einer "raschen Zinssenkung in Europa" und damit einer Ausweitung der Geldmenge nachweisen sollte. Neben der "schwachen Binnennachfrage" führt Flassbeck die Zusammenbruchstendenzen in Fernost und Osteuropa an: "Der weltweite Rückgang der Kapitalnachfrage ist letztlich Folge des Einbruchs der Investitionstätigkeit in Asien und zuletzt in Osteuropa. Dieser Nachfragerückgang schlägt sich auch in den Industrieländern in einem Rückgang der Exportnachfrage und damit einer konjunkturellen Abschwächung nieder. Diese Abschwächung verlangt nach einer Zinssenkung am kurzen Ende", d.h. bei kurzfristigen Anlagen.

Gleichzeitig warnt Flassbeck vor den Auswirkungen deflationärer Tendenzen. Deflation bedeutet vor allem Lohn- und Preisstagnation bzw. -verfall, führt aber tendenziell auch zur Entwertung von Kapital und Aktien. Entscheidender Faktor für die aktuelle Gefahr einer Deflation, so Flaßbeck, sei die Lohnpolitik: "Die nominalen Kosten der Arbeit sind weit weniger stark gestiegen als die Produktivität der Arbeit." Will sagen: Vorzeigbare Lohnerhöhungen würden nicht gerade schaden.

Ein Signal, das die Reflexe der Oberstadt aktivierte: Die Süddeutsche erinnerte daran, daß die Sozis unter Schmidt mit Keynes "den Gewerkschaften" schon einmal "freie Hand für maßlose Lohnforderungen" gaben. Die Idee, "mittels Lohnerhöhungen die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen", habe schon damals "viel Schaden" angerichtet. Auch der Spiegel warnt, "eine Geldinfusion" treibe nur "die Preise nach oben, vor allem die Löhne". Und so ist es der Horror kräftiger Lohnzuwächse, die die - ansonsten von recht widersprüchlichen Interessen geleitete - Truppe gegen Lafontaine zusammenbringt.

Das ist ungerecht: Die Nachteile einer Ausweitung der Geldmenge - das, was der Spiegel "die Begehrlichkeiten der Gewerkschaften" nennt - wollen die Sozialdemokraten doch erklärtermaßen extra bekämpfen: im Bündnis für Arbeit.